Uncategorized

#5 Female Genital Mutilation

Triggerwarnung: In diesem Text wird von sexistischer Gewalt und Körperverletzung gesprochen.
Female Genital Mutilation (FGM) beschreibt laut WHO alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung zum Zielhaben, sei es aus kulturellen oder anderen, nichttherapeutischen Gründen.
Im Deutschen wird auch häufig die Bezeichnung „Weibliche Genitalverstümmlung“ verwendet. Diese beschreibt zwar das Ausmaß der Gewalt des Eingriffs, kann in der Arbeit mit Betroffenen aber als Abwertung oder Defizit wahrgenommen werden.
Eine andere häufig verwendete Bezeichnung – „Weibliche Beschneidung“ – suggeriert, dass der Eingriff vergleichbar mit männlicher Beschneidung wäre und kann so euphemistisch wirken.
Im folgenden Text wird die International weitläufige Abkürzung FGM verwendet. 
Weltweit sind schätzungsweise mindestens 200 Millionen weiblich sozialisierte Personen von FGM betroffen. Jährlich erfahren laut UNICEF ca. 3 Millionen Personen FGM, das sind fast 3000 pro Tag. 
Ungefähr 25% davon sterben während des Eingriffs oder an seinen Folgen. 
FGM wird in 30 Ländern ausgeübt, welche sich geografisch vor allem auf Nordost-, Ost und Westafrika konzentrieren. Auch Länder, welche dem sogenannten „Nahen Osten“ zugeordnet werden oder im südöstlichen Asien sind betroffen, wie auf dieser interaktiven Karte visualisiert.
In Europa leben mittlerweile 1 Millionen Personen die FGM durchlebt haben oder davon bedroht sind. Nicht wenige davon leben in Deutschland.
Es zeigt sich: FGM ist kein Verfahren, welches einem einzelnen Land, einer bestimmten Religion oder Kultur zuzuordnen ist. Deshalb variieren die Verfahren in ihrer Ausführung teilweise sehr. 
Laut WHO lässt sich die FGM jedoch in vier Typen einteilen, davon sind die ersten beiden am meisten Vertreten.
Der Typ I bezeichnet alle Verfahren in denen die Clitoris vollständig oder partiell entfernt oder beschädigt wird (Klitoridektomie) während beim Typ II ebenso die Schamlippen betroffen sind (Exzision) 
Beim Typ III werden, unabhängig davon, ob die Verfahren des Typ I und II stattgefunden haben, die Schamlippen zusammengenäht (Infibulation) Die zurückbleibende Öffnung ist verengt, das Ausmaß unterscheidet sich. Der Typ IV bezeichnet alle anderen verletzenden Eingriffe an den weiblichen Äußeren Genitalien. 
FGM wird ab dem Säuglingsalter vorgenommen und findet durchschnittlich zwischen dem 4. Und 12. Lebensjahr statt. 
Meist führen ältere Frauen* FGM unter unhygienischen Bedingungen und ohne Betäubung durch. Als „Werkzeug“ werden dabei Rasierklingen, Glasscherben, Scheren oder Findernägel verwendet. 
Die Begründungen für die Durchführung von FGM variieren stark so wie Traditionen in dessen Rahmen sie vorgenommen wird. Oft steht dabei die „Jungfräulichkeit“ der Betroffenen im Vordergrund. Die weiblichen Genitalien werden als schmutzig und hässlich betrachtet. Beispielsweise gibt es die Annahme, die Klitoris sei giftig und gefährde die Gesundheit aller, die sie berühren. Andere Gründe sind die Überzeugung einer Fruchtbarkeitssteigerung durch den Eingriff oder der vermeintliche Schutz vor der eigenen „unkontrollierbaren“ Sexualität oder Vergewaltigung. 
Diese Gründe sind alle höchst sexistisch und genauso entmenschlichend und gewaltvoll, wie der Eingriff selbst. Sie gehen alle mit dem Hauptgrund einher, dass ein gemeinschaftlicher Zugzwang herrscht. Nicht Betroffene werden stigmatisiert, als minderwertig und nicht heiratswürdig betrachtet oder sogar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. 
Neben vielen akut-physischen Folgen, wie beispielsweise schweren Blutungen, einer Blasenlähmung oder einer Infektion mit HIV, haben Betroffene langfristig teilweise unaushaltbare Schmerzen beim Urinieren oder der Menstruation.
Die Folgen für die Sexualität variieren bei Betroffenen. Geschädigtes Lustempfinden und Abwesenheit von sexuellem Verlangen sind unter Anderem maßgeblichen von den psychischen Folgen des Eingriffs bestimmt. Die Traumata, die die Betroffenen durchleben mussten, können auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. 
Die vermehrte Flucht aus Ländern, in denen FGM durchgeführt wird, kann in Deutschland erfolglos sein, wenn Betroffene Durchlebtes vor Behörden nicht detailliert und wiederholt Darstellen wollen oder können, beispielsweise weil sie an den genannten psychischen Folgen leiden. Erst seit 2004 ist FGM implizit als Fluchtursache im deutschen Gesetz verankert. Eine Anerkennung setzt aber neben der detaillierten Schilderung und damit evtl. einhergehenden Retraumatisierung auch bei Rückkehr drohende Menschenrechtsverletzungen voraus, welche bei Betroffenen ja bereits stattgefunden hat. 
Betroffene sind nach der Flucht häufig nicht nur stigmatisiert oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und haben gar keinen Ort mehr zu dem sie zurückkehren könnten. Eine Rückkehr ist, jedoch unabhängig vom exakten Grund, immer unzumutbar. 
Weiblich sozialisierte Personen, die in Deutschland leben und/oder aufgewachsen sind, durchleben FGM meist außerhalb Deutschlands in Ländern beziehungsweise Gemeinschaften, zu denen ihre Familien sich zugehörig fühlen (sog. „Ferienbeschneidung“). 
Um das zu verhindern wurde 2016 in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, welches in diesem Falle mit einem Entzug des Passes droht. Dieses Gesetz ist zwar ein Versuch Betroffene zu schützen, indem man durch Machtdemonstration des Staates abschreckt. Aufklärung von Familien und Schutzbefohlenen, um das Problem im Ansatz zu greifen findet von staatlicher Seite jedoch wenig statt.
Es gibt mittlerweile viele nicht-staatliche Organisationen, welche gegen FGM und für dessen Visibilität kämpfen, so die Desert Flower Foundation, welche von einer Betroffenen, Waris Dirie, gegründet wurde. 
Die Anatomische Rekonstruktion nach einer FGM wird mittlerweile in mehreren deutschen medizinischen Einrichtungen vorgenommen.
Trotzdem: Die wenigsten Menschen in Deutschland wissen, was FGM ist, weil kein kollektives Bewusstsein dafür herrscht. 
Ein Bewusstsein, das in einer patriarchalischen Gesellschaft, die weibliche Sexualität und Geschlechtsorgane tabuisiert auch nicht geschaffen werden kann. 
Diese weltweite Tabuisierung verwehrt Betroffenen den sicheren Zugang zu Hilfsangeboten. Aufklärung Leistenden können ihre Arbeit nicht uneingeschränkt ausführen. 
Es braucht eine Enttabuisierung weiblicher Lust, Schmerzen, Sexualität und Geschlechtsorgane!
Es braucht Aufklärung und das Handeln Verantwortlicher Staaten und Akteur*innen in Politik und Gesellschaft!
Doch vor allem muss den Betroffenen zugehört werden! 
In diesem Sinne endet dieser Text mit den Forderungen der Desert Flower Foundation!

Quellen und zum Weiterlesen:
Buch und Film: Wüstenblume von Waris Dirie
www.who.int/news-room/fact-sheets/detai…
www.desertflowerfoundation.org/de/home….
www.profamilia.de/fileadmin/dateien/fac…
uefgm.org/index.php/about/?lang=de
data.unicef.org/resources/no-time-to-lo…
www.frauenrechte.de/images/downloads/fg…
www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/use…
www.fulda-mosocho-project.com/beschneid…/

#4 Gender Bias in der medizinischen Forschung

Vorneweg: Wir als kritische Mediziner*innen sind der Überzeugung, dass das biologische Geschlecht sex ebenso wie das soziale Geschlecht gender fluide und die Einteilung in „Mann“ und „Frau“ längst überholt sind. (Lest dazu gerne noch mal den vorigen Text zu Medikalisierung von Geschlecht vom 3.3.21.)
Wissenschaft hängt jedoch von der Verfügbarkeit von Daten ab, die es bislang fast nur aus der androzentristischen Perspektive gibt. Daher lassen sich auch nur schwer wissenschaftliche Aussagen über bspw. Wirkung von Medikamenten bei intergeschlechtlichen Personen treffen – diese Daten werden bislang schlichtweg nicht erhoben. Die Bildung der Kategorien „Mann“ und „Frau“ in der Medizin ist ein erster Schritt weg von „Mann als Norm“. Klar ist aber, dass das Ziel die individualisierte Medizin ist, in der Patient*innen als Menschen betrachtet werden, die individuell verschieden sind und eine auf sie abgestimmte Therapie und Medikation benötigen.

Aristoteles behauptete, Frauen seien nichts anderes als „kleine Männer“. Diese Vorstellung scheint in der Medizin bis heute zu bestehen, denn hier gilt der männliche Körper nach wie vor als Norm. Alles von dieser Norm Abweichende wird als „atypisch“ oder „anormal“ qualifiziert. Dies wird am Beispiel Herzinfarktsymptomatik deutlich: Ein Herzinfarkt äußert sich bei jungen Frauen häufig in Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit oder Übelkeit. Diese Symptome werden oft als „atypisch“ bezeichnet, da sie von dem „klassischen“, in der Leitlinie beschriebenen Bild des Mannes mit in den linken Arm ausstrahlendem Brustschmerz, abweichen. Die Folge ist, dass Herzinfarkte bei Frauen von Ärzt*innen schlechter oder gar nicht erkannt werden, spät oder fehlerhaft behandelt werden und somit die Wahrscheinlichkeit nach einem Herzinfarkt zu sterben für Frauen höher ist als für Männer. Das British Medical Journal berichtet 2016: das Risiko für junge Frauen, im Krankenhaus zu sterben, sei fast doppelt so hoch wie das von Männern. Neben Unterschieden in Auftreten, Verlauf und Ausprägung von Krankheiten bei Männern und Frauen fanden Forscher*innen in nahezu jedem Gewebe und Organsystem des Körpers geschlechtsspezifische Unterschiede. So unterscheidet sich bspw. die Lungenkapazität von Frauen und Männern, auch wenn diese Werte in Relation zur Körpergröße betrachtet werden. Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es sogar auf Zellebene: beispielsweise variiert die Expression von Proteinen, die bei der Verstoffwechselung von Medikamenten in der Leber (Biotransformation) eine wichtige Rolle spielen und damit die Wirkung von Medikamenten maßgeblich beeinflussen. 
Es lässt sich also festhalten: Frauen sind nicht einfach kleine Männer!

Dennoch dominiert dieser Irrglaube auch in der Lehre: Beispielsweise in Anatomiebüchern werden zur Darstellung „neutraler“ Körperteile laut einer Studie dreimal mehr männliche als weibliche Körper abgebildet. Eine niederländische Studie von 2005 ergab, dass geschlechts- und genderspezifische Themen „nicht systematisch bei der Entwicklung des Curriculums berücksichtigt werden“. Wie sollen zukünftige Ärzt*innen für geschlechtsspezifische Unterschiede sensibilisiert werden, wenn dies kein Thema in der Ausbildung ist?

Um geschlechtersensible Medikamente und optimale Therapien zu entwickeln, bedarf es Forschung, die den Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit analysiert. Hier liegt ein Problem, denn weibliche (und intergeschlechtliche) Körper wurden weithin aus der medizinischen Forschung ausgeschlossen. 
Bis heute sind sie in Studien unterrepräsentiert. Obwohl beispielsweise 55% der HIV-positiven Erwachsenen in Entwicklungsländern Frauen sind und bekannt ist, dass HIV bei Frauen zu anderen klinischen Symptomen und Komplikationen führt, stellten sie laut einem Bericht über den Anteil von Frauen in der HIV-Forschung in den USA in antiretroviralen Studien nur 19,2% der Teilnehmenden; in Impfstudien waren es 38,1% und in Studien zur Heilung von HIV 11,1%. 
Besonders wenige Daten gibt es über die Behandlung von Schwangeren, da sie routinemäßig von klinischen Studien ausgeschlossen werden. Es ist verständlich, dass Schwangere zögern, an klinischen Studien teilzunehmen. Dennoch sollten Gesundheitszustand und Krankheitsverläufe systematisch erfasst und dokumentiert werden. Beim SARS-Ausbruch 2004 in China wurde dies nicht getan – die WHO erklärte später: „Aufgrund dieser Datenlücke war es nicht möglich den Verlauf und die Folgen von SARS während der Schwangerschaft vollständig zu beschreiben“. Solche Lücken hätten leicht vermieden werden können und diese wichtigen Informationen fehlten uns zu Beginn der Corona-Pandemie 2020. 
Ein weiteres Problem ist, dass die Forschung nach wie vor von (konservativen, weißen) Männern dominiert wird und das „Thema Gender“ als lästig empfunden wird. Eine Forscherin für öffentliche Gesundheit erzählte, sie habe auf zwei verschiedene Fördermittelanträge folgendes Feedback bekommen: „Ich wünschte, Sie würden mit diesem Geschlechterkram aufhören und sich wieder der Wissenschaft zuwenden“ und: „Ich arbeite seit 20 Jahren in diesem Bereich und der biologische Unterschied ist nicht von Bedeutung“. Dem liegt zugrunde, dass weibliche Körper für „zu komplex, zu variabel und zu teuer“ gehalten werden, um etwa in Medikamentenstudien miteinbezogen zu werden. Daher wundert es kaum, dass der Großteil der Medikamente nicht zu unterschiedlichen Zeiten des weiblichen Zyklus getestet wird. Das sei für die Forschung „zu kompliziert“, deshalb wird in der Regel in einem Zeitfenster des Zyklus getestet, in dem der Einfluss der weiblichen Hormone als relativ gering eingeschätzt wird. Im richtigen Leben jedoch spielen all diese Faktoren und Hormonschwankungen eine Rolle: Auswirkungen des Zyklus wurden bislang unter anderem bei Antihistaminika, Antibiotika, Herzmedikamenten und Antidepressiva festgestellt. 
Auch in der präklinischen Forschung ist der Data-Gap groß: Eine Untersuchung von 2007 ergab, dass 90% aller pharmakologischen Artikel nur Studien an männlichen Tieren beschreiben. Weibchen werden nicht einmal dann miteinbezogen, wenn es um hauptsächlich bei Frauen vorkommende Krankheiten geht. Das hat Folgen: Wenn ein Wirkstoff in der frühen Entwicklung bei Testung an männlichen Tieren keine Wirkung zeigt, wird die Studie i. d. R. verworfen ohne zu schauen, ob der Wirkstoff bei weiblichen Tieren anders wirkt. Wie viele Therapien kamen Frauen nur deshalb nicht zugute, weil sie keine Wirkung auf die männlichen Zellen hatten, an denen ausschließlich getestet wurde? Und andersherum: Wie viele Medikamente wirken eigentlich nur oder nur optimal bei Männern? Tatsächlich ist die häufigste Nebenwirkung von Medikamenten bei Frauen, dass das Medikament schlicht nicht wirkt. 
Bei Zellstudien sieht es nicht anders aus. Hier ist das größte Problem, dass die Studien das Geschlecht der Zelle oft gar nicht erst angeben. Ein Beispiel: Lange staunten Wissenschaftler*innen über die Unvorhersehbarkeit transplantierter, aus Muskeln gewonnener Stammzellen, die im kranken Muskel manchmal regenerierten, in anderen Fällen jedoch nicht. Erst spät wurde klar, dass es keineswegs unvorhersehbar war: es war abhängig vom Geschlecht der Zellen: weibliche Zellen fördern Regeneration, männliche nicht. 
Dazu kommt, dass selbst wenn zu gleichen Teilen an männlichen und weiblichen Zellen/ Tieren/ Proband*innen geforscht wird, die Ergebnisse oft nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt werden bzw. keine Erklärungen gegeben werden, weshalb der Einfluss des Geschlechts auf die Ergebnisse ignoriert wurde. 
Die Folge all dieser Mechanismen ist eine über lange Zeit entstandene Datenlücke hinsichtlich weiblicher Körper, die bewirkt, dass weibliche Körper in unserem System systematisch diskriminiert werden.

Es gibt Versuche, die Wissenschaft zur Berücksichtigung von weiblichen Körpern in der medizinischen Forschung zu verpflichten. 
In den USA beispielsweise müssen Frauen in mit öffentlichen Geldern finanzierte klinische Studien miteinbezogen werden und die Daten nach Geschlecht analysiert werden. Dies gilt seit 2016 auch für präklinische Studien und weibliche Tiere in Tierversuchen. Ähnlich sind Regelungen in der EU und Australien. Inzwischen fordern auch einige Fachzeitschriften geschlechterspezifische Daten als Bedingung zur Veröffentlichung. 
Analysen des National Institute of Health (NIH) in den USA zeigen jedoch, dass diese Regelungen schlecht durchgesetzt werden und viele Schlupflöcher bieten. So werden die meisten Studien in den USA von privaten Pharmaunternehmen durchgeführt und unterstehen damit kaum staatlichen Regularien, ebenso wie die Forschung an Generika.

Der Weg zur individualisierten Medizin (die übrigens auch vielen Männern, die nicht das Klischee des 70kg-Mannes erfüllen, zugute kommen würde) ist lang. Zuerst müssen die Datenlücken gefüllt werden. Dafür müssen systematisch so umfangreich wie möglich Daten über Krankheitsverlauf, biologische Voraussetzungen, Krankengeschichte etc. erhoben werden. Anschließend müssen die Daten analysiert werden und ihre Ergebnisse in der Entwicklung von Medikamenten aber auch in der medizinischen Praxis berücksichtigt werden. Des weiteren muss das Thema Gendermedizin dringend Bestandteil der Ausbildung werden – nicht nur im Medizinstudium, sondern überall dort, wo Forschung betrieben wird.

#3 Medikalisierung von Geschlecht

Trigger Warnung: In diesem Text wird die historische Situation von intersexuellen Menschen beschrieben, wobei gewaltvolle Eingriffe und Sprache in Zitaten Erwähnung finden.

Einführung

Als Kritische Mediziner*innen vertreten wir die Ansicht, dass sowohl das biologische sex als auch das gesellschaftliche gender konstruierte Kategorien sind, die dazu dienen, Menschen in Gruppen einzuteilen, wobei die einen aufgrund dieser Zuteilung benachteiligt und unterdrückt werden. Wir lehnen ebenfalls ein binäres Verständnis von Geschlecht ab, in dem die beiden einzigen Kategorien „männlich“ und „weiblich“ sind, und in dem alles, was nicht eindeutig in eine dieser Kategorien einsortiert werden kann, als krankhaft und behandlungswürdig abgewertet wird.

Die Rolle von Medizinerinnen*

Konkret müssen wir als zukünftige Generation von Ärzten und Ärztinnen uns mit der Geschichte der Medizin und der Rolle, die unsere Vorgänger*innen gespielt haben, auseinandersetzen. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert macht sich die Medizin zum Handlanger einer Gesellschaft, die Körper reguliert und normiert, indem Ärzte und Ärztinnen Körper und Geschlechtsorgane chirurgisch und medikamentös an eine soziale Norm angleichen, statt ihr Wissen über Diversität und komplexe Wechselwirkungen zwischen Genetik, Umwelteinflüssen und weiteren, teils unbekannten Faktoren, für die gesamte Gesellschaft zugänglich zu machen. Angleichungseingriffe sind dabei keinesfalls eine vergangene Praxis, sondern sie werden teils noch heute durchgeführt. Demnach darf unsere Auseinandersetzung mit dem Thema nicht bei einer historischen Betrachtung und Selbstkritik enden, sondern wir müssen uns aktiv dafür einsetzen, dass die Rechte intersexueller Menschen heute geschützt werden, dass eine wissenschaftliche Forschung auf Augenhöhe mit und im Dienste der Betroffenen stattfindet, und dass die Lehre der Entstehung von Geschlecht in der Schule und im (Medizin)Studium radikal verändert wird, um neueste Erkenntnisse einzubeziehen statt die Verfestigung von veralteten und als wissenschaftlich falsch erwiesen Theorien zu fördern.

Konstruktion von sex und gender

1951 schrieb Simone de Beauvoir in “Das andere Geschlecht”: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, wobei sie damit auf die gesellschaftliche, diskursive Konstruktion des „sozialen Geschlechts“ bzw. des gender hinweist. Dies mag einigen von uns heutzutage als banale Aussage erscheinen. Womit viele sich jedoch nach wie vor viele schwer tun, ist der Gedanke, dass das „biologische Geschlecht“ – sex – ebenfalls eine soziale Konstruktion ist, wie es Judith Butler in ihrem 1990 erschienen Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“ ausführt.
Warum halten viele an dem Gedanken fest, dass es ein „wahres“, „eigentliches“ Geschlecht geben muss, und dass die Disziplin, die uns diese Antwort liefern kann, nur die Biologie bzw. die Medizin sein muss?

Historische Entwicklung in Deutschland

Ulrike Klöppel liefert uns einen Beitrag aus historischer Perspektive, der der Frage nachgeht, weshalb die vermeintliche medizinische Expertise mehr Gewicht hat als die Kritik von Intersex-Organisationen und wie die Medizin diese autoritative Rolle erlangte.
Obwohl Ärzte seit dem 16. Jahrhundert von Hermaphroditismus sprechen und für sich beanspruchen, aufgrund ihrer anatomischen Kenntnisse die alleinigen Sachverständigen in Fragen des uneindeutigen Geschlechts zu sein, haben diese Behauptungen bis ins 19. Jahrhundert wenig praktische Konsequenzen laut Klöppel. Die Rechtstexte der Preußischen Staaten von 1794 erlaubten beispielsweise ein Geschlechterwahlrecht für erwachsene Hermaphroditen ohne vorherige Beurteilung durch Sachverständige – wobei von dieser Wahl nachträglich unter Drohung der Strafe für Meineid nicht mehr abzuweichen war.

Nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 verschlechterte sich die Rechtslage für Hermaphroditen, da Geburtenregister eingeführt wurden, auf denen das Geschlecht des Neugeborenen anzugeben war. Gleichzeitig verfiel das Geschlechterwahlrecht mit der juristischen Begründung, dass dies unnötig geworden sei, da es nach medizinischem Wissenstand als erwiesen galt, dass es weder geschlechtslose noch mehrgeschlechtliche Menschen gibt, sondern dass „jeder sog. Zwitter entweder ein geschlechtlich missgebildeter Mann oder ein geschlechtlich missgebildetes Weib ist“ (Zit. nach: Benno Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Aalen 1979, S. 370).
Diese Behauptung entsprach allerdings keinesfalls der zeitgenössischen medizinischen Diskussion. Wissenschaftler und Mediziner, darunter auch Rudolf Virchow, gingen davon aus, dass es ein Kontinuum der Geschlechter gäbe, und dementsprechend auch „echte“ Hermaphroditen, die unmöglich einem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuzuordnen waren. Sie forderten den Gesetzgeber dazu auf, diese Tatsachen in den Geburtenregistern darzustellen, z.B. indem das Geschlechtswahlrecht wieder eingeführt werde, und empfahlen, dass jegliche praktische Maßnahmen vom Empfinden der Betroffenen abhängig gemacht werden.
Diese Forderungen setzten sich allerdings nicht durch, und so wurde vonseiten des Gesetzgebers eine eindeutige Zuweisung gefordert, wobei es der Medizin überlassen wurde, Beurteilungskriterien festzulegen.

Ab den 1950er Jahren schien die Einführung von chromosomalen Testverfahren als ein objektives Beurteilungskriterium vielversprechend, es zeigte sich allerdings rasch, dass auch hier vielfältige Zusammensetzungen existieren und nicht immer eindeutigen Aussagen getroffen werden können bezüglich eines biologischen Geschlechts. Bei mangelnden objektiven Beurteilungskriterien vertraten die meisten deutschen Mediziner weiterhin die Empfehlung, Eingriffe am „subjektiven“ Geschlechtsempfinden zu orientieren und diese, selbst auf Wunsch der Eltern, nicht im Kindesalter durchzuführen.

In den USA allerdings herrschte eine andere Vorgehensweise vor: Genitaloperationen an intersexuellen (Klein)Kindern wurden systematisch durchgeführt, wobei sich die Geschlechtszuweisung primär nach dem Erscheinungsbild der äußeren Genitalien und den technischen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie richtete. Eine Untersuchung der im Babyalter operierten und als eindeutig männlich oder weiblich erzogenen Intersexuellen ergab, dass diese sich mit ihrer Geschlechterrolle identifizierten, selbst bei fehlender biologischer Übereinstimmung. Daraus leitete die Forschungsgruppe ab, dass die Geschlechterrolle sich aus externer Zuweisung, Erziehung und dem äußerlichen Körperbild ergebe, wobei eine Einflussnahme nur in den ersten beiden Lebensjahren möglich sei, da sich die Geschlechterrolle danach irreversibel verfestigte.
Diese Forschungsergebnisse legitimierten die planmäßige Steuerung und das Behandlungsvorgehen bei intersexuellen Kindern, sodass diese Verfahren Ende der 1960er Jahre auch in Deutschland übernommen wurden.

Klöppel zieht folgendes Fazit: „Die Genitaloperationen fungierten dabei als Blackbox: Es wurde schlicht unterstellt, dass sie effektive und nebenwirkungsfreie Behandlungstechniken seien; Narben, Verwachsungen, Sensibilitätsverlust, Schmerzen oder Traumata waren kaum Thema in medizinischen Publikationen. Erst die massiven Proteste von Organisationen intergeschlechtlicher Menschen, die in den 1990er Jahren einsetzten, haben eine gewisse Sensibilisierung der Medizin für die Probleme von Genitaloperationen im Kindesalter bewirkt. Dennoch ist ein Ende dieser Praxis noch nicht in Sicht.“ (Vgl. Ulrike Klöppel, Geschlechtergrenzen geöffnet? in: Gen-ethischer Informationsdienst, 211 (2012), S. 35-37.)

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bildete sich das Konzept der Geschlechtsidentität heraus, die zwar als Konstruktion anerkannt wird, bei der jedoch eine eindeutige und stabile affektive Bindung an einen männlichen oder weiblichen Geschlechtsstatus als Grundbedingung psychischer Gesundheit und sozialer Integration vorausgesetzt wird.
Von diesem Konzept ausgehend legitimiert sich für viele Ärzte und Ärztinnen heutzutage nach wie vor die Bewertung von Intersexualität als pathologischen, psychosozialen Notfall, der durch planmäßige Steuerung mittels Genitaloperationen und Hormonbehandlung vermieden bzw. gelindert werden kann. Dabei stellen sich viele Ärzte und Ärztinnen taub gegenüber den Forderungen der Betroffenen Personen nach körperlicher Integrität und dem Recht auf Selbstbestimmung. 
Deshalb müssen wir als Medizinerinnen die Definitionsmacht über Geschlechtszuteilung an die Betroffenen abgeben und uns dafür einsetzen, eine Gesellschaft zu erschaffen, in denen intersexuelle Menschen sowohl vor ungewollten medizinischen Angleichungsmaßnahmen geschützt sind als auch vor Anfeindungen und psychosozialer Ausgrenzung in der Gesellschaft.

Weiterführende Literatur:

• www.bpb.de/apuz/135440/medikalisierung-…
• Dokufilm “Die Katze wäre eher ein Vogel” (Melanie Jilg, 2007)
• www.youtube.com/watch?v=7Fbc376gcVs
• GID-Broschüre Genethisches Netzwerk „SeXY Gene“ 2009
• BMFSFJ – Geschlechtliche Vielfalt. Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Trans- und Intersexualität. 2015.

#2 Abtreibungen International

Abtreibung ist ein Menschenrecht und ein elementarer Bestandteil für die Gleichberechtigung von Frauen*. Besonders wenn man bedenkt, dass 35% aller Frauen* Opfer von physischer oder sexueller Gewalt werden, sollte der Zugang zu einem Schwangerschaftsabbruch selbstverständlich sein. Dennoch haben 40% aller Frauen* im gebärfähigen Alter keinen Zugang zu sicherer Abtreibung, da sie in Ländern mit restriktiven Abtreibungsgesetzen oder in Ländern, in denen Abtreibungen zwar legal, aber praktisch mit hohen Barrieren versehen ist, leben. Daher setzen sich viele NGOs für legalen und niederschwelligen Zugang zu Abtreibungen ein, wie z.B. Amnesty International oder Women on Waves. Auch die WHO unterstützt das Recht auf Abtreibung in ihrem Programm R.E.S.P.E.C.T., welches die Prävention von Gewalt gegen Frauen* zum Ziel hat. Doch für eine flächendeckende Versorgung und die konsequente praktische Umsetzung sind entsprechende Rechtsprechungen international unerlässlich. Der folgende Text soll einen Überblick über ausgewählte internationale Beispiele geben, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu haben. Dafür sind die juristischen, politischen, kulturellen und religiösen Situationen zu verschieden.

Das Centre for Reproductive Rights hat die Rechtsprechung von Ländern weltweit in 5 Kategorien eingeteilt. Die Karte orientiert sich hauptsächlich an der Gesundheit der gebärenden Person und stellt nur die Rechtsprechung dar. Weiteren Schwierigkeiten wie Kosten, lange Wartezeiten, Anreise, Verweigerung durch ärztliches Personal oder Belästigung durch Fundamentalist*innen kann sie nicht gerecht werden. 
In den USA führte beispielsweise Trumps Legislaturperiode zu einem Rückschlag für die 1973 legalisierte Abtreibung. In Alabama wurden kurzfristig stark restriktive Gesetze (von ausschließlich männlichen gelesenen Staatsmännern) verabschiedet. Schwangere, die Hilfe aufsuchen, werden vor den Gesundheitszentren bedroht und beleidigt. Außerdem erfährt der 1997 gegründete konservativ christliche World Congress of Families inzwischen internationale Popularität. 
Auch Italien, wo Abtreibungen bis zum 3. Monat seit 1978 erlaubt sind, erfährt zur Zeit ein Versorgungsproblem, weil 70% aller Ärzt*innen den Eingriff verweigern (vermutlich durch den wachsenden Einfluss der Kirche).
In Polen veranlasste die PIS-Partei unter Jaroslaw Kaczynski eine Verschärfung des Abtreibungsgesetzes. Abtreibungen sind in keinem Fall mehr erlaubt – weder bei schwerer Behinderung des Fötus noch bei Vergewaltigung. Damit hat Polen eine der strengsten Verfassungen weltweit, obwohl nur ca. 30% der Bevölkerung dieser Gesetzesänderung zugestimmt hätten und seit Monaten Menschen protestierend auf die Straße gehen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die rechtliche Klarheit, damit medizinisches Personal bereit ist, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen. In einigen Ländern führten Verurteilungen und Verunsicherung bzgl. der Rechtsprechung in den vergangenen Jahren dazu, dass die Gesundheitsversorgung der Nachfrage nicht mehr gerecht werden konnte. Uns allen ist als Beispiel Deutschland bekannt, doch auch in Österreich ist die Rechtsprechung ähnlich. Der Schwangerschaftsabbruch ist bis zur 12. SSW mit ärztlicher Beratung meist straffrei, jedoch grundsätzlich strafbar und kann einen Freiheitsentzug von bis zu 3 Jahren nach sich ziehen – sowohl für Ärzt*innen als auch für Schwangere, die den Abbruch selbst induzieren. In der Schweiz kann ein Abbruch seit 2002 ohne medizinische Indikation bis zur 12. Woche durchgeführt werden.

Durchschnittlich wird jede 4. Schwangerschaft terminiert. Dabei haben Studien gezeigt, dass die Gesetzgebung keine Rolle spielt. Die Inzidenz in Ländern mit restriktiver Gesetzgebung bzw. komplettem Abtreibungsverbot liegt bei 37/1000 Schwangerschaften, während sie in Ländern mit liberaler Gesetzgebung bei 34/1000 liegt. Der Unterschied liegt in der Sicherheit der Betroffenen. Die legale Abtreibung hat eine Mortalitätsrate von ca. 0,00073% (Vergleich Koloskopie: 0,007%), während an selbstinduzierten Abtreibungen zahlreiche Frauen* versterben – aufgrund der Methode oder weil sie sich danach nicht trauen, medizinische Hilfe aufzusuchen, da dies juristische Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Somit ist der Schutz der Frauen*, welchen Abtreibungsgegner*innen oft als Argument anführen, nicht gegeben. Stattdessen findet eine Kriminalisierung und damit Diskriminierung statt. Wichtig ist, dass nicht nur cis Frauen von dieser Diskriminierung betroffen sind, sondern ebenso transgender, inter und non-binären Personen, denen der Zugang zu Verhütungs- und Abtreibungsmöglichkeiten verwehrt wird.
Geschätzt finden 25 Millionen unsichere Schwangerschaftsabbrüche pro Jahr statt. Besonders stark betroffen davon sind Länder in Südamerika und Afrika, wobei Argentinien (2021) und Kenya (2019) Abtreibungen legalisierten. Ob Nachbarsländer dem Beispiel folgen, wird sich zeigen.

Das Thema Abtreibung hat viele Facetten. So sind auch ethische Diskussionen über den Zusammenhang mit Infantiziden aufgrund des Geschlechts (zum Beispiel in Indien) durchaus berechtigt. In diesem Fall ist jedoch ein Abtreibungsverbot ebenso wenig die Lösung. Die Zwangsabtreibung aufgrund der Ein-Kind-Politik, welche vor Jahren aus China durch die Medien ging, ist erschütternd. Auch sie entspricht nicht unserer Forderung nach Selbstbestimmtheit. Zum Thema Abtreibung und Wohl von Kind und Gebärende kursieren gar zu viele falsche Annahmen und Behauptungen. Wir, als kritische Mediziner*innen, wünschen uns eine professionellere politische Herangehensweise und einen Umgang, der Betroffene nicht traumatisiert.
Daher fordern wir: Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen! Universellen, weltweiten Zugang zu Abtreibungen sowie deren medizinischer Nachsorge! Freien Zugang zu evidenz-basierten Informationen über Abtreibung – ohne Zwang, Gewalt und Diskriminierung!

#1 Abtreibungen in Deutschland

Die Diskussion über den Paragrafen 219a, der Werbung für Abtreibungen verbietet, ist in diesem Jahr abgeflacht. Die Ärztin Kristina Hänel wurde jedoch erst kürzlich, im Januar 2021, rechtskräftig zu einer Geldstrafe verurteilt. Erstmalig war Frau Hänel 2017 angezeigt worden. Nun möchte sie eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreichen.
Den Ursprung hat der Paragraf in einem NS-Vorgängergesetz von 1933 zur Verfolgung von Abtreibungsärzt*innen, welcher 1974 weitestgehend von der sozialliberalen Koalition übernommen wurde. Bis heute ist es Ärzt*innen verboten „öffentlich und zu ihrem eigenen Vermögensvorteil oder in grob anstößiger Weise“ darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen.
Die Sinnhaftigkeit des Paragraphen wurde sogar von der verurteilenden Richterin im Hänel-Prozess in Frage gestellt.
Zwar ist erst im Februar 2019 eine Reform des Paragraphen durchgeführt worden, nachdem jetzt Ärzt*innen auf die Tatsache hinweisen dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Die Information, welche Methoden sie dabei anwenden, bleibt aber weiterhin verboten.
Anders als etwa in Skandinavien werden in Deutschland 3 von 4 Abtreibungen nach wie vor operativ durchgeführt. Zusätzlich zu einer Gynäkolog*in braucht es dazu eine Anästhesist*in. Allerdings muss auch bei einem medikamentösen Abbruch ein*e Frauenärzt*in zu zwei Terminen persönlich anwesend sein. Der sogenannte “Home Use”, die Möglichkeit also, die beiden Pillen per Rezept selbst in der Apotheke abzuholen und mit telemedizinischer Begleitung einzunehmen, ist in Deutschland verboten.
Es kann nicht sein, dass Personen, die schwanger werden können, der Zugang und die Informationen über Abtreibungen so erschwert wird und gleichzeitig Ärzt*innen aus Angst vor Strafverfolgung keine Abtreibungen anbieten. Seit Jahren geht die Anzahl an Ärzt*innen, die Abtreibungen vornehmen zurück. Auch die allgemeine Gesetzeslage ist erdrückend: Nach §218 StGB gilt die Beendigung einer Schwangerschaft in Deutschland als Tötungsdelikt und wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft. Zwar gibt es Ausnahmen, etwa wenn der Abbruch in den ersten zwölf Wochen erfolgt. Das kriminalisiert Frauen* ohne Kinderwunsch und verunsichert Ärzt*innen. 
Aktuell ist es Personen erlaubt, die keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, über diese zu informieren. Deswegen verlinken wir hier Informationen über Schwangerschaftsabbrüche. Wir dürfen die Informationshoheit nicht Fundamentalist*innen überlassen.

Krankenhausschließungen im Bilde der Corona-Pandemie

Das Thema Krankenhausschließungen ist seit Jahren in aller Munde und wurde in der Politik, von verschiedensten Stiftungen, sowie in der Presse breitgetreten. Es wurde eine massive Überversorgung „attestiert“, unter anderem mit Sätzen wie „300 Krankenhäuser im ganzen Land reichen“, „100 km Anreise ins Krankenhaus sind zumutbar“. Während der Coronapandemie gehen Schließungen von Krankenhäusern und die Stimmungsmache gegen kleine, nicht profitable Kliniken munter weiter, obwohl die Intensivkapazitäten durch Corona am Limit sind. Erst vor kurzer Zeit wurde ein Krankenhaus-Schließungssimulator von den gesetzlichen Krankenversicherungen veröffentlicht. Jede*r kann jetzt sein Krankenhaus dicht machen – zumindest virtuell. Diese einseitige Darstellung ist unserer Meinung nach nicht zielführend und lenkt von den realen und aktuellen Problemen ab. 

Die Statistik zeigt derweil: Krankenhausschließungen sind schon seit Jahrzehnten an der Tagesordnung, insgesamt gibt aktuell es mehr als 500 Krankenhäuser weniger als noch vor 20 Jahren. Zusätzlich wurde an falscher Stelle aufgebaut: in „profitablen“ Bereichen und Gegenden wurden private Häuser eröffnet, deren Anzahl nimmt seit Jahren zu. Gleichzeitig nahm die Verweildauer von Patient*innen im Krankenhaus von 17 Tagen auf 7 Tage ab. Dass  die  Betten  problemlos  abgebaut  werden  konnten,  weil  die  Verweildauern  sanken,  wird immer  wieder  behauptet.  Zumindest  genauso  wahrscheinlich  ist  aber  das  Gegenteil:  Die  Verweildauern  mussten  sinken  und  die  Patient*innen immer früher entlassen werden, weil die Betten abgebaut wurden und die Zahl der Patient*innen immer weiter zunahm. Es kommt zu sogenannten „blutigen Entlassungen“, die die Patient*innengesundheit gefährden.In der Coronakrise wird die Wichtigkeit des Freihalten von Bettenkapazitäten ersichtlich. Eine vollständige Auslastung ist ein konstantes Arbeiten am Limit und plant den Notfall und/oder eine Pandemie nicht ein. Insbesondere der psychische Druck auf die Pflege ist bei bestehendem Pflegenotstand nicht lange auszuhalten und führt zu einem Arbeitsumfeld, was den Beruf Pfleger*in noch unattraktiver macht, als er aktuell schon ist.
Internationale Vergleiche sind nicht so einfach zu ziehen, wie es oft getan wird: Dänemark und Holland beispielsweise haben andere geografische Voraussetzungen, eine unterschiedliche Organisation des Gesundheitswesens, sowie andere Wartezeiten und Kosten. Diese Unterschiede werden bei solchen Vergleichen nicht berücksichtigt.


Bisherigen Krankenhausschließungen liegt die fehlende finanzielle Rentabilität zugrunde. Diese kann jedoch kein Marker für die Notwendigkeit eines Krankenhauses sein. Zunächst einmal ist der Sinn von Krankenhäusern, die medizinische Versorgung der Gesellschaft sicherzustellen; nicht, Gewinne zu erwirtschaften. Ist das primäre Ziel allerdings Profit, wie es aktuell im deutschen Gesundheitswesen der Fall ist, geht das auf Kosten der Patient*innenversorgung. Weiterhin richtet sich die Wirtschaftlichkeit eines Krankenhauses nach den erfolgten Behandlungen. Die Finanzierung erfolgt über das System der Fallpauschalen, also über administrierte Festpreise für die jeweilige Behandlung. Dabei wird vor allem die Diagnose betrachtet, unabhängig von den tatsächlich entstehenden Kosten, die das Krankenhaus zu bewältigen hat. Problematisch daran ist vor allem, dass die Vergütung in keinem Verhältnis zur Relevanz der Behandlung steht. So werden z.B. vor allem Operationen hoch vergütet, obwohl es oft auch risikoärmere konservative Therapiemöglichkeiten gibt. Besonders pflegebedürftige Patient*innen, die jedoch keine Behandlungsmaßnahmen in Anspruch nehmen, die einen Profit versprechen, sind hingegen eher Kostenfaktor. Die Konsequenz daraus ist, dass Kliniken ihre kostenintensiven Fachrichtungen verkleinern oder gleich „einsparen“. Werden nun also Krankenhäuser aufgrund fehlender wirtschaftlicher Rentabilität geschlossen, verschlechtert sich der Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung. Die gesellschaftliche Relevanz misst sich also nicht an der Wirtschaftlichkeit.


Weniger Kliniken bedeutet mehr Anfahrtszeit und weniger Standorte für die Notfallversorgung, insbesondere in den ländlichen Regionen. Als Alternativvorschlag gelten die Primärversorgungszentren, die neben  der Diagnostik und Therapie von Akuterkrankungen auch die Weiterleitung in spezialisierte Zentren weitervermitteln. Dies soll eine Anlaufstelle für kurzfristige und kleine Eingriffe sein, und gleichzeitig ein wohnortnaher Standpunkt von Notfallversorgung. Bisher sind diese aber nur Theorie und die Schließungen gehen weiter.
Gleichzeitig verschärfen die Krankenhausschließungen den Druck auf die Pflege, wo die Unterbesetzung im Moment aktuell schon hoch ist. Krankenhausschließungen rütteln nichts an den mangelnden Fachkräften in diesem Bereich und sind keine Lösung für den Pflegenotstand.Eine Verlagerung der Behandlung in den ambulanten Bereich, um Krankenhäuser zu entlasten, steht erst dann zur Debatte, wenn der ambulante Bereich beispielsweise durch Primärversorgungszentren ausgebaut wird. 


Der Pflegemangel muss jetzt angegangen werden, bevor man nur über weitere Schließungen nachdenken kann! Endlich eine angemessene Bezahlung, eine gescheite Personalbemessung auf allen Stationen und tolerierbare Arbeitsbedingungen. Das sollte doch möglich sein, oder?