Pflegestreik Berlin 2021

Wo stehen wir?
In linken Kreisen herrscht Konsens, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflege schlecht sind. Trotzdem soll kurz beschreiben werden, wo wir stehen und warum.
Die aktuelle Belastungssituation lässt sich anhand von wenigen Fakten festmachen. So sind sowohl die gefühlte Belastung, als auch die objektivierbaren Aufgaben und die Arbeitszeit seit ca. 2 Jahrzehnten konstant und im Vergleich zu anderen Berufsgruppen hoch. Folge sind eine hohe Anzahl an Fehltagen und ein hoher Anteil an Teilzeitarbeit (2009: 52%). Neben Versorgung von Kindern ist das Gefühl, die eigene Gesundheit schützen zu müssen, ein großer Faktor. Im Durchschnitt arbeiten Pfleger*innen 8,4 Jahre in ihrem Beruf.
Die Gründe für die hohe Arbeitsbelastung sind vielfältig und sehr individuell: Pflege ist schwere körperliche Arbeit, durch die Konfrontation mit Ausnahmesituationen ist die psychische Belastung hoch. Meist arbeiten Pfleger*innen im Schichtdienst. Hinzu kommt ein geringer Gestaltungsspielraum, der hohe Grad der Bürokratisierung und die subjektive fehlende monetäre wie gesellschaftliche Anerkennung. 1

Wie konnte es so kommen?
Vor 1984 wurde das deutsche Gesundheitssystem vollfinanziert, nach dem sogenannten Selbstkostendeckungsprinzip. Seit den 1980er Jahren wurde mit Einführung der DRGs (Fallpauschalen) schrittweise ein Konkurrenzdenken im Krankenhauswesen geschaffen. 
Was folgte, war der sogenannte „Kellertreppeneffekt“: Wenn die Ausgaben aktuell zu hoch sind, müssen dauerhaft Kosten gesenkt werden; dies fällt dann oft auf die Geringverdienenden zurück.


60% der Kosten im KKH entfallen auf das Personal. 
Zur Kostensenkung in diesem Bereich werden hier 3 einfache Konzepte vorgestellt: 
1. Durch Outsourcing werden Bereiche der Arbeit um- oder ausgegliedert. Neben dem Effekt der Zuführung von privaten Geldern wird dieser Bereich dann aus für den Betrieb geltenden Tarifverträgen rausgelöst. 2005 war es auch bei der Charité so weit: Das Charité Facility Management wurde ausgegliedert, dabei wurden 49% der Firmenanteile an private Investor*innen verkauft.
2. Das einfachste Konzept stellt der Personalabbau dar. Wo weniger Menschen arbeiten, müssen auch weniger bezahlt werden. Während an der Charité die Zahl der stationären Fälle stark anstieg, sank die Zahl der Pflegekräfte innerhalb von 9 Jahren. Zwar sank auch die Verweildauer deutschlandweit von durchschnittlich 13,3 auf 7,7 Tage innerhalb von 15 Jahren, an der Charité waren es 2015 sogar nur 5,82 Tage. Oft stellt dies jedoch keine Entlastung dar, sondern Arbeitsverdichtung, da Aufgaben in einem kürzeren Zeitraum erledigt werden müssen.
3. Die Personalumstrukturierung beschreibt die Abgabe von Hilfaufgaben an Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung, zum Beispiel an Krankenpflegehelfer*innen, Servicekräfte, Studierende oder Azubis.

Was wurde dagegen getan?
An der Charité streikte die Pflege mithilfe von ver.di bereits mehrmals. Nach einem dieser Streiks wurde 2006 ein Tarifvertrag ausgehandelt. 
Ein Tarifvertrag ist eine Einigung zwischen der Gewerkschaft und einer Firma, bzw. Arbeitgeber*innenverband, in dem Arbeitsbedingungen wie etwa Löhne, Gehälter, Arbeitszeit und Urlaubsanspruch geregelt werden.
Nachdem ver.di mit der Charité schon seit ca. 2010 einen neuen Tarifvertrag aushandelte, war es 2015 zu einem Stillstand gekommen:
Pflege und OP wollten das ewige Aufschieben und die aktuelle Arbeitsbelastung in Berlin nicht mehr hinnehmen.
Deswegen kam es im Juni 2015 an der Charité erneut zum Streik:
Über 2 Wochen wurden 20 Stationen geschlossen, 1200 von 3000 Betten und große Teile des OPs wurden bestreikt, Schätzungen gingen von einem Verlust von 500.000€/Tag aus.


Der Streik im Gesundheitssystem war aus mehrere Gründen neuartig: 
Es wurde auf eine basisdemokratische Erarbeitung der Forderungen gesetzt (Abgeordneten-System): Wenn die Mehrheit der auf einer Station arbeitenden Pflegekräfte bei ver.di organisiert waren, stellten diese eine*n Tarifberater*in. Diese trafen sich in Versammlungen und diskutierten über die Forderungen für den neuen Tarifvertrag, zum Beispiel über die Mindestbesetzungen auf den einzelnen Stationen. Die so erarbeiteten Forderungen wurden danach an die Hauptamtlichen von der ver.di Tarif- und Verhandlungskommission weitergeleitet, welche die Forderungen gegenüber dem Vorstand verhandelten.
Der Streik hatte Erfolg und so wurde der erste sogenannte „Entlastungstarifvertag“ in Berlin abgeschlossen. Einige Kernpunkte stellten die Mindestbesetzung auf den Intensivstationen Stroke 1:3 und Kinderklinik höchstens 1:6,5 dar. Für den Hauptteil der Angestellten auf den Normalstationen konnte kein Konsens erarbeitet werden, es wurden lediglich „Richtwerte“ wurden. Der Entlastungstarifvertrag ist sehr angreifbar, hatte viele „Schlupflöcher“, war für die Charité wenig verbindlich und setzte oft auf die „Selbstregelungskompetenz der Beschäftigen in Bereichen ohne definierte Mindeststandards“.

Der Entlastungs-Tarifvertrag, nur ein weiterer Tarifvertrag?
Und doch war der Tarifvertrag ein Meilenstein in der Geschichte der Krankenhausstreiks, und das aus mehreren Gründen.
Erstmals ging es nicht um Geld, sonder ganz spezifisch um die Arbeitsbedingungen des Personals und eine langfristige Verbesserung der Arbeitssituation. 
In dem sonst für Gewerkschaften schwierigen Umfeld herrschte zuletzt eine große Zustimmung, so stimmten in der Urabstimmung 96% der Pflegekräfte für einen Streik.
Im Verlauf klagte die Charité auf unternehmerische Freiheit gegen die Forderungen zu mehr Personal. Das Landesgericht Berlin bestimmte jedoch mit einer einstweiligen Verfügung: 
„Die unternehmerische Freiheit des Arbeitgebers endet dort, wo der Gesundheitsschutz der Beschäftigten anfängt“. Somit konnten die Angestellten für mehr Personal streiken. 
Der Streik sorgte für ein großes mediales Interesse, was schlussendlich auch zum Erfolg der Forderungen führte.
Nicht zuletzt war der Entlastungstarifvertrag besonders, weil er nur der erste einiger Entlastungstarifverträge in anderen Städten sein sollte.

Neben einigen Unikliniken konnte an anderen deutschen Krankenhäusern ein sogenannter Entlastungstarifvertrag für die Pflege erstritten werden. In einigen Städten wurde das System der Belastungsschichten etabliert. Falls unter einem vorher festgelegten Pflegeschlüssel gearbeitet wird, erhalten alle Personen einen Punkt. Bei Sammlung einer bestimmten Anzahl von Punkten, z.B. 7 Punkten, erhält die Person einen Tag frei. Im folgenden Jahr wird dann die Anzahl der Punkte, die man für einen freien Tag benötigt reduziert. Somit wird kontinuierlich ein höherer Druck ausgeübt, wobei gleichzeitig der Krankenhausleitung Zeit für Einstellung von mehr Personal gegeben wird.

Was hat sich mit dem Entlastungstarifvertrag an der Charité in Berlin getan?
Leider ist zum jetzigen Zeitpunkt die Umsetzung des Tarifvertrags mangelhaft: auf 50% der Stationen arbeitet zur Zeit eine Person weniger als es der Tarifvertrag vorsieht. 
Wo keine konkreten Vorgaben (z.B. in der Rettungsstelle) existieren, sollte die Charité Personalbedarf analysieren, was jedoch nicht geschehen ist.
Auch die Forderung der Aufstockung der Nachtdienste wurde nicht umgesetzt; statt 40 Stellen aufzubauen, wurden 20 Stellen abgebaut. 
Bei Überlastung war die folgende Kaskade vorgesehen: Erst werden Leasingkräfte angefordert, dann reduzieren die Pflegekräfte die Tätigkeiten, schlussendlich werden Betten gesperrt. Diese Maßnahmen haben sich als unwirksam herausgestellt: im Vergleich zur Zeit vor dem Entlastungstarifvertrag werden 2/3 weniger Leasingstelle angefordert, das Sperren von Betten ist weiterhin eine Ausnahme.

Was ist diesmal der Plan?
Es soll ein neuer Entlastungstarifvertrag verhandelt und wenn nötig erstritten werden. Dabei sollen Tarifverträge für die Charité und die Vivantes-Kliniken gemeinsam erkämpft werden. 
Der Kampagnenname lautet Berliner Krankenhausbewegung.
Der Auftakt der Kampagne ist auf den Tag der Pflege am 12.05.2021 angesetzt. 
Hier erfolgt eine Übergabe von Forderungen an die Leitungen der Krankenhäuser sowie den Berliner Senat.
Wenn ihr spontan morgen bei der Übergabe dabei sein sollt, ist die Anmeldung unter folgender Adresse erforderlich, um die Mindestabstände zu gewährleisten: https://www.redseat.de/12-mai/ (Teilnehmen ist sowohl als Pflegekraft, als auch als Unterstützer*in möglich).
Mit Start der Kampagne wird ein Ultimatum von 100 Tagen gestellt, um die Bedingungen des aktuell geltenden Tarifvertrags einzuhalten und eine Einigung der Bedingungen des neuen Entlastungtarifvertrags zu erzielen. Falls bis zum Ende des Ultimatums keine Einigung gefunden wird, folgt ein zeitlich unbegrenzter Streik. Dies fällt genau in die Wahl zum Bundestag und zum Abgeordnetenhaus in Berlin im September 2021. 
Gefordert wird die Vereinbarung eines verbindlichen Pflegepersonalschlüssels für alle Stationen. Das System der Überlastungsschichten soll übernommen werden, um einen kontinuierlichen Druck auf die Klinikleitung zur Verbesserung der Bedingungen zu schaffen. Das basisdemokratische Konzept zur Entwicklung der Forderungen soll beibehalten werden. Gleichzeitig wird ein Tarifvertrag (TVöD) für alle gefordert, sodass Beschäftigten der Tochterunternehmen, wie z.B. das oben erwähnte Charité Facility Management, eine faire Bezahlung und menschliche Arbeitsbedingungen gewährleistet werden.

1 www.wido.de/fileadmin/Dateien/Dokumente…

gesundheit-soziales-bb.verdi.de/++file+…

https://www.berliner-krankenhausbewegung.de

Pandemiebekämpfung global denken – für eine gerechte Impfstoffverteilung!

In der Diskussion um zu wenig Impfdosen und Verteilungsstrategien fehlt vielerorts der Blick für das große Ganze. Während Teile der deutschen Bevölkerung wünschen, dass sich z.B. Grossbritannien, das schon mehr als 22 Millionen Erwachsene geimpft hat (Stand 09.03.2021), solidarischer mit der EU verhält, wünschen wir uns mehr Weitsicht auf die Welt. Wo ist unsere anfangs so groß geschriebene Solidarität geblieben? Ohne eine globale Impfstrategie und eine gerechte Verteilung der Ressourcen ist kein Ende dieser globalen Pandemie in Sicht.  Wir fordern mehr Partizipation an der globalen Impfstrategie COVAX, Aussetzung des Patentrechts nach TRIPS und einen Blick über den Tellerrand. 

Im letzten Jahr zeigte sich uns der Nationalismus mit einem neuen Gesicht: Impfstoffnationalismus. Wer hat am schnellsten Impfstoff gekauft? Wer hat den meisten gehortet? Und wer hat den besten, der die meisten Standards erfüllt? Zumindest innerhalb der Grenzen der EU herrscht eine gewisse Solidarität bei der Verteilung, mit wenigen Ausnahmen natürlich. Bemerkenswert ist, dass in ein paar Ländern schon fast die gesamte Bevölkerung die zweite Impfdosis erhalten hat. Doch bedauerlich, dass die knapp 40 Millionen geimpften Menschen nur aus 49 der etwa 200 Länder der Welt kommen – vor allem aus Israel, Großbritannien, den USA, den Vereinigten Arabischen Emiraten sowie vielen Ländern der EU. In vielen anderen Ländern werden bis zum Ende des Jahres 2021 wahrscheinlich nicht einmal 10% der Bevölkerung geimpft sein. Zynisch betrachtet vermutlich der Teil, welcher sich für die klinischen Studien für Europa zur Verfügung gestellt hat. Wenn wir nun schon so gerne an uns denken, so sollten wir auch an folgende zwei Punkte denken: eine globale Herdenimmunität ist von großer Wichtigkeit, wenn wir es nicht in den kommenden Jahren mit immer neuen Virusmutationen zu tun haben wollen. Außerdem haben andere Länder und Gesundheitssysteme nicht die Ressourcen, einen langen Lockdown oder eine hohe Anzahl schwer erkrankter Menschen „auszuhalten“. Während wir weiterhin auf ihre Güter zählen, sind uns ihre Leben egal.


Bei der Diskussion um die Impfstoffverteilung darf eine andere Debatte nicht außer Acht gelassen werden: Patente und geistiges Eigentum. Milliarden staatliche Fördergelder fließen in die Grundlagenforschung und speziell im letzen Jahr in die medizinische Forschung zu Covid-19, für deren Resultat Pharmaunternehmen nun horrende Preise selbst festlegen und verlangen können. Pharmazeutische Unternehmen sollten die Produkte ihrer staatlich geförderten Arbeit öffentlich zugänglich und nutzbar machen. Es darf hierbei nicht ihnen überlassen werden, ob und inwieweit sie Solidarität zeigen. Die staatlichen Geldgeber*innen sollten sich emanzipieren und die Produkte ihrer Förderung einfordern. 
Das TRIPS (Trade-Related  Aspects  of  Intellectual  Property  Rights) Agreement verpflichtet zudem alle Weltstaaten zu Respekt vor dem geistigen Eigentum. Ein Eigentum, welches aus ökonomischen Gründen bedauerlicherweise überwiegend in der westlichen Welt entsteht. Dieses Abkommen ist in einer Situation, in der weder genügend Impfstoff durch die Lizenzträger*innen produziert, noch zu erschwinglichen Preisen erworben werden kann, eine Zumutung. Wir unterstützen die Forderung nach Aussetzung des Patentrechts für Covid-19 Produkte, welche den WTO-Staaten durch Indien und Südafrika, beide selbst von der Pandemie stark betroffen, vorgelegt wurde. Während das Vorgehen von vielen Staaten unterstützt wird, sind es vor allem die europäischen Länder, die aktuell blockieren. Können sich Länder den nötigen Impfstoff nicht selbst leisten, fördert dies deren Marginalisierung und unterstreicht neokolonialistische Denkmuster. Es ist an der Zeit zu reflektieren, wieso sich manche Länder den Impfstoff nicht leisten können und welchen Teil das Europa, in dem wir leben, zu den Verhältnissen beigetragen hat. Es darf nicht sein, dass Länder vom G7, G20 oder der Gunst der „westlichen Wertegemeinschaft“ abhängig sind. Denn diese Grosszügigkeit ist bescheiden. Die beiden globalen öffentlich-privaten Gesundheitspartnerschaften CEPI  (Impfstoffentwicklung) und GAVI (Impfstoffbeschaffung und Verteilung) entwickelten zusammen mit der WHO die Kampagne COVAX, die einen weltweit gleichmäßigen und gerechten Zugang zu COVID-19-Impfstoffen gewährleisten will. Der COVAX-Vertrag zwischen der EU und den Impfstoffhersteller*innen stellt zwar ein prinzipiell zu begrüßendes Konzept dar, doch er untergräbt sich selbst mit bilateralen Vorabverträgen zwischen einzelnen Ländern und der Pharmaindustrie. Gerechtigkeit sieht anders aus. Obwohl COVAX die Rollenbilder Bedürftiger und Mächtiger festigt, sehen wir darin die Möglichkeit, einer akuten Problematik gerecht zu werden. Doch nur eine größere Bereitschaft seitens der EU und anderer Industrienationen kann eine globale Impfstrategie ermöglichen. Um dieser Pandemie entgegenzutreten, ist eine weltumfassende Strategie unabdingbar. Es ist notwendig, unsere gemeinsame Handlungsfähigkeit schneller unter Beweis zu stellen, als ein Virus mutieren kann. Es ist unerlässlich, auch an Menschen in Ländern zu denken, deren Staaten sich nicht so viel Impfstoff leisten können. Wenn wir nicht wollen, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich in den nächsten Jahren noch mehr vergrößert, müssen wir dafür sorgen, dass unsere Regierung sich für eine gerechte Impfstoffverteilung einsetzt. Wir fordern mehr Transparenz und Zugang für die Öffentlichkeit, sowie Preise in angemessener Relation zu den Produktionskosten durch die Pharmaunternehmen. Solidarität endet nicht an nationalen Grenzen oder der Festung Europa.

Für weitere Hintergrundinfos zu Kampagnen bezüglich Forschung zu und Verteilung von Medikamenten bzw. Impfstoffen gegen Covid-19 verweisen wir auf das Positionspapier verschiedener humanitärer Organisationen.

#7 Sexuelle Belästigung in der Pflege

“Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz ist nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz in Deutschland verboten.” (Antidiskriminierungsstelle des Bundes)


Doch in der Realität besteht sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als weit verbreitetes Problem. Laut Studien der Antidiskriminierungsstelle finden im Gesundheitswesen sogar die meisten sexuellen Übergriffe statt – am Vulnerabelsten sind dabei Pflegende. Aufgrund des vertraulichen und körperlich nahen Arbeitsumfeldes kommt es in diesem Bereiche oft zu sexuellen Übergriffen. Wichtig ist an dieser Stelle noch einmal zu erwähnen, dass 4 von 5 Pflegenden weiblich sind! Auch die alten Rollenbilder sind noch nicht überwunden: “Wenn ich mit einem männlichen Pfleger ein Zimmer betrete, wird der für einen Arzt gehalten. Ich bekomme dann Sätze zu hören wie ‘Ach, Sie haben aber ein nettes Lächeln.’“, so eine Krankenpflegerin.

Laut einer Studie der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege berichten mehr als 90 Prozent der rund 1600 Befragten Pflegerinnen* über verbale und 70 Prozent über körperliche Gewalterlebnisse. Es ist davon auszugehen, dass viele Fälle wie üblich nicht in in die Statistiken eingehen, da Betroffene häufig über sexuelle Gewalt aus Scham und Tabuisierung schweigen. Denn „gerade in pflegerischen Berufen besteht die Tendenz Gewaltereignisse zu bagatellisieren oder zu tabuisieren, da sie vermeintlich zum Beruf gehören.” (Claudia Vaupel von der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege). Darüber hinaus erlaubt das Arbeitsumfeld in der Pflege kaum Zeit und Kapazitäten für das Aufarbeiten von traumatisierenden Erlebnissen wie sexueller Gewalt. Dies führt zu weniger Berufszufriedenheit, mehr emotionaler Erschöpfung, mehr Zynismus und einem niedrigeren Level von psychischem Wohlbefinden (Waschgler 2013).

Die körperenge Arbeit und die Verantwortung für die Gesundheit der Patient*innen fühlt sich zudem manchmal an wie ein Graubereichen. Für betroffene Pfleger*innen ist vieles oft nicht klar einordbar. Wann werden die wiederholten Aufforderungen zur Genitalpflege zur Belästigung? Wann hörst du auf ihr nachzukommen? Wird der Belästigungsfall eindeutig, ist die psychische Integrität häufig schon verletzt. Viele Betroffene sind verunsichert: “War das ein Übergriff?”
Doch selbst eindeutige Fälle der sexuellen Belästigung sind im Pflegenden-Patient*innen-Verhältnis nicht selten. Ein Beispiel aus der ambulanten Pflege:
“Der Mann war Ende 40 und ziemlich fit. Bei der für ihn zuständigen Einrichtung war es allgemein bekannt, dass er zudringlich wird. Die Pflegerinnen betraten seine Wohnung nur, nachdem sie Kollegen anriefen und sie am Telefon mithören ließen. Damit im Notfall eingegriffen werden konnte.”

Hinzukommen die stark hierarchischen Strukturen im Krankenhaus, denen gerade junge, weibliche* Pflegende gegenüberstehen. “Die Menschen, die in der Hierarchie weiter unten stehen, sind häufiger betroffen.” , (Sabine Oertelt-Prigione, Professorin an der Charité)
Das eindeutige Machtgefälle in der Krankenhaushierarchie macht es schwerer Fehlverhalten an Vorgesetzte zu melden. Auch innerhalb des Teams ist sexuelle Granzüberschreitung kein Einzelfall. 46.59% der Pflegenden werden von Patient*Innen, 41.10% von Ärzt*Innen, 27.74% von Angehörigen, 37.8% von pflegenden und weiteren Kolleg*Innen belästigt.

Letztendlich ist sexuelle Belästigung in der Pflege die Kontinuität der Herrschaft über weibliche Körper und der Abwertung der Arbeit von Frauen* in ihrem essentiellen Beitrag für die Gesellschaft. Der Pflegeberuf wird teils moralisch in den Himmel gehoben, doch weibliche Arbeiterkörper sind weiterhin alltäglicher Gewalt ausgesetzt. 
Wir fordern mehr Aufklärung für Mitarbeiter*innen und ein klares Vorgehen gegen Übergriffe! Institutionen sind in erster Linie dazu angehalten einen Raum zu schaffen, der das Aufkommen von Gewalttaten verhindert. Bereits Betroffene sollen Unterstützung erhalten. Es ist nie zu spät einen Fall zu melden: auf der Startseite des Intranets der Charité gibt es zum Beispiel einen Button für Betroffene, hier werden Anlaufstellen angezeigt.

Als weitere Referenz: www.spiegel.de/panorama/pflege-zwei-kra…
www.charite.de/service/pressemitteilung…/
www.zeit.de/arbeit/2019-10/sexuelle-bel…
pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32612455/

#6 Verhütungsmethoden für Männer*


Zuerst ein kurzer, geschichtlicher Exkurs. Im weiteren Verlauf des Textes gibt es eine Übersicht über verschiedene Kontrazeptionsmethoden für Männer* ohne Anspruch auf Vollständigkeit.


Die Entwicklung der Pille ist, wie so oft in medizinischer Forschung, von Schattenseiten geprägt:Die ersten Ideen für hormonelle Verhütungsmethoden kamen um die 1920er Jahre herum auf. Es dauerte noch weitere 40 Jahre bis in den USA mit finanziellen Mitteln der Biologin Katharine McCormick diese Idee Einklang in die medizinische Forschung fand. Die frühe Aktivistin Margaret Sanger war, neben ihrem Einsatz für Verhütungsmethoden, auch Rassenhygienikerin und trat für Zwangssterilisation ein. Der Konzern Schering, der die Pille zuerst auf den Markt brachte, hat bis nach dem Krieg Experimente an Frauen in Auschwitz gerechtfertigt. Das Grundprinzip der damaligen Forschung, und der daraufhin erhältlichen Präparate, bestand darin, dem Körper von Menschen, die schwanger werden können, hormonell eine Schwangerschaft vorzutäuschen – denn während einer Schwangerschaft ist keine weitere Konzeption möglich.
Erst als Arzneimittel gegen Menstruationsbeschwerden eingeführt, unter starkem Protest der Kirche, wurde die „Pille“ später in Deutschland als Befreiung gefeiert. Die „Pille“ wirkte und wirkt auch im Sinne feministischer Kämpfe – unter anderem durch Vereinfachung sexueller Selbstbestimmung und mehr Macht über eine mögliche Familienplanung. Noch heute ist sie die Nummer eins unter den Kontrazeptiva, wenn auch mit rückläufiger Tendenz. So verhüten laut einer Umfrage von 2018 56% der 18-29-Jährigen Frauen* auf diese Art. Zahlreiche weitere Medizinprodukte oder Arzneimittel lassen sich schnell finden: Hormonpflaster, Kupferkette, Portiokappe, Diaphragma, um nur einige zu nennen. Bis auf Kondome haben gängige Verhütungsmethoden jedoch eines gemeinsam: Sie bleiben bis heute – ganze 60 Jahre nach der „Pillen-Revolution“ – vor allem Frauen*sache.
Dass über 60 Jahre verstreichen, in denen Kontrazeption vorwiegend von Frauen* übernommen wird, ist inakzeptabel. Es sind vor allem Frauen*, die für die Kosten der Pille oder anderer Verhütungsmethoden aufkommen müssen – und das nicht nur im wörtlichen Sinne. Mental Load um die korrekte Einnahme herum, starke Nebenwirkungen, Termine bei Ärzt*innen, bis die richtige Pille gefunden ist, Schmerzen beim Einsetzen von Intrauterinpessaren wie z.B. der Spirale – um diese Themen müssen sich Männer* kaum Gedanken machen. Derzeit tragen also vor allem Frauen* die Last und das Risiko zu verhüten. Die Einnahme von hormonellen Verhütungsmitteln können mit Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Migräne, Gewichtszunahme, Libidoverlust,  Stimmungsschwankungen und sogar Depressionen einhergehen. Bei kombinierten hormonellen Präparaten aus Progesteron und Gestagenen ist das Risiko für potenziell lebensbedrohlichen Thrombo-Embolien auch bei jungen Frauen* zweifach bis sechsfach erhöht. Zwar bleiben solche gefährlichen Nebenwirkungen selten, solchen Risikosteigerungen sind systematisch jedoch nur Frauen* ausgesetzt. In einer patriarchalischen Gesellschaft hat dies System und ist kein Zufall.
Es gab in den letzten Jahrzehnten Ansätze hormonelle Verhütungsmethoden für Männer* zu erforschen. Wie ernsthaft es dabei zugeht oder zuging ist jedoch leider fraglich. Handelt es sich wohlmöglich um Doppelmoral/Double Standards, wenn 2011 die WHO-Studie für hormonelle Verhütung für Männer* abgebrochen wurde, da die Teilnehmenden von unerwünschten Arzneimittelwirkungen wie Kopfschmerzen, Stimmungsschwankungen oder Libidoverlust berichteten, also denselben Nebenwirkungen, die bei Frauen* seit Jahrzehnten in Kauf genommen werden? Dass es trotz wissenschaftlichen und technischen Fortschritts bisher keine etablierten, anerkannten Verhütungsmethoden für Männer* gibt, die über Nutzung von Kondomen oder einer Vasektomie (Durchtrennung der Samenleiter) hinausgehen ist Ausdruck eines zutiefst patriarchalen Systems und der kapitalistischen Logik, kein finanzielles Risiko mit neuen Methoden eingehen zu wollen. So wird davon ausgegangen, dass Männer* keine Verantwortung für Verhütung übernehmen wollen und es somit keinen profitablen Anreiz für Pharmaunternehmen gibt, daran zu forschen. 
Allerdings gibt es kleine Hoffnungsschimmer. Es handelt sich um eine nur teils repräsentative Vorstellung von verschiedenen Methoden die sich in verschieden Phasen klinischer Testung befinden – oder eben nicht einmal das.


Vasagel

Das Vasagel ist ein Polymergel aus Kunststoff, das in die Samenleitern injiziert wird. Spermien können das Gel, im Vergleich zum Rest der Samenflüssigkeit, nicht passieren. Die Spermien werden vom Körper wieder abgebaut. So können Erektion und Ejakulation stattfinden und gleichzeitig eine Schwangerschaft verhindert werden. Das Gel soll ca. 1 Jahr in den Samenleitern verbleiben können, bei Kinderwunsch wird es durch die Injektion eines weiteren Mittels aufgelöst. Es wird demnächst eine Zulassung in den USA erwartet, das Arzneiprodukt/Medizinprodukt befindet sich derzeit in einer der letzten Studienphase der klinischen Testung.


Boulocho

Boulocho ist eine thermische Verhütungsmethose, die im Moment in Frankreich an Beliebtheit gewinnt. Während des Tragens der besonderen Unterhose befinden sich die Hoden näher zum Körper. Dadurch steigt die Temperatur in den Hoden leicht an, was bestimmte Enzyme weniger gut arbeiten lässt, wodurch letztlich die Spermienproduktion gehemmt wird. Die Wirksamkeit tritt nach ca. 3 Monaten ein, wenn die Unterhose 15h/Tag getragen wird. Um die Effektivität zu testen, wird nach dieser Zeit ein Spermiogramm gemacht. Wenn die Methode weniger als 4 Jahre benutzt wird, ist sie innerhalb von 3 Monaten reversibel.Dennoch gibt es keine (großen) klinischen Studien dazu und die Methode wird daher derzeit nicht offiziell anerkannt.


Samenleiterventil

Es wird eine kleine Operation benötigt, um das Samenleiterventil zu implantieren. Dabei werden die Samenleiter durchtrennt und durch das verschlossene Ventil anschließend wieder verbunden. 3 Monate später wird ein Spermiogramm angefertigt, um die Effektivität des Eingriffs zu überprüfen.Wenn Kinderwunsch besteht, lässt sich das Ventil umschalten, sodass die Spermien wieder in das Ejakulat gelangen können.Bisher gibt es wohl weltweit nur eine Person, die diese Methode bisher angewandt hat – der Erfinder Clemens Bimete selbst. Sollte es soweit kommen, wird das Samenleiterventil durch die notwendige Operation tendenziell eher zu den teuren Kontrazeptiva gehören. Studien gibt es ebenfalls noch keine. 


Justicia Gendarussa

Das grüne Chichlidenkraut ist vor allem in Südostasien endemisch. Die Pflanze wird von einigen indigenen Völker Indonesiens und Papua-Neuguinea sowie auf den Philippinen traditionell benutzt – etwa bei rheumatischen Erkrankungen, Koliken bei Kindern, oder Asthma – und nicht zuletzt manchmal zur Verhinderung einer Schwangerschaft. Dazu werden Tees zubereitet, oder die Blätter der Pflanze gegessen. Die Wirkung entsteht durch die Hemmung der Hyaluronidase, eines Enzyms das sich im Kopfteil der Spermien befindet. Durch die Hemmung verlieren die Spermien die Fähigkeit, sich mit der Eizelle zu vereinigen. Es sind bisher kaum Nebenwirkungen bekannt, Zeugungsfähigkeit soll nach derzeitiger Datenlage nach 30 Tagen wiederhergestellt sein. Studien laufen aktuell in Indonesien.

11-β-MNTDC

11-β-MNTDC greift wie die „Pille“ in den Hormonaushalt ein. Es reduziert die Synthese von Testosteron u.a. in den Hoden, wo eine hohe lokale Konzentration für die Spermienproduktion essenziell ist. So wird die Spermienproduktion deutlich vermindert. Gleichzeitig ahmt 11-β-MNTDC die Wirkung von Testosteron im ganzen Körper nach, sodass Nebenwirkungen vergleichbar milde ausfallen. Dies hat sich in der Phase-1-Studie gezeigt, sodass alle 40 Testpersonen die Präparate bis zum Ende der Studie eingenommen haben. Weitere Studien sind geplant. Allerdings stehen hier, sowie bei anderen hormonellen Kontrazeptiva für Männer*, noch bis zu 10 Jahre Wartezeit bis zur Zulassung an.


Die häufig postulierte Aussage, Spermien seien einfach zu resistent oder zu viele, um sichere Verhütungsmethoden zu entwickeln, wurde schon lange widerlegt. Das macht auch den eigentlichen Grund für die schleppende Forschung an Verhütungsmethoden für Männer* sichtbar: die Unterdrückung von Frauen*. Es wird Zeit, diese Episode hinter uns zu bringen. Die klinische Forschung ist noch längst nicht auf dem Stand, auf dem sie sein könnte, wenn wir Verhütung als Aufgabe aller Geschlechter denken würden und nicht der Person, die potentiell schwanger werden könnte, überlassen. Doch das aktuell herrschende Ungleichgewicht in Bezug auf Verhütungsmittel kann mit den vorgestellten Methoden hoffentlich langsam aufgelöst werden. Was jedoch den Kampf gegen sexuell übertragbare Krankheiten angeht, gibt es bisher keine Alternative zum Kondom – eine Verhütungsmethode, die den Kopf beider Parteien bedarf und weltweit für alle Menschen kostenlos verfügbar sein sollte!

#5 Female Genital Mutilation

Triggerwarnung: In diesem Text wird von sexistischer Gewalt und Körperverletzung gesprochen.
Female Genital Mutilation (FGM) beschreibt laut WHO alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung zum Zielhaben, sei es aus kulturellen oder anderen, nichttherapeutischen Gründen.
Im Deutschen wird auch häufig die Bezeichnung „Weibliche Genitalverstümmlung“ verwendet. Diese beschreibt zwar das Ausmaß der Gewalt des Eingriffs, kann in der Arbeit mit Betroffenen aber als Abwertung oder Defizit wahrgenommen werden.
Eine andere häufig verwendete Bezeichnung – „Weibliche Beschneidung“ – suggeriert, dass der Eingriff vergleichbar mit männlicher Beschneidung wäre und kann so euphemistisch wirken.
Im folgenden Text wird die International weitläufige Abkürzung FGM verwendet. 
Weltweit sind schätzungsweise mindestens 200 Millionen weiblich sozialisierte Personen von FGM betroffen. Jährlich erfahren laut UNICEF ca. 3 Millionen Personen FGM, das sind fast 3000 pro Tag. 
Ungefähr 25% davon sterben während des Eingriffs oder an seinen Folgen. 
FGM wird in 30 Ländern ausgeübt, welche sich geografisch vor allem auf Nordost-, Ost und Westafrika konzentrieren. Auch Länder, welche dem sogenannten „Nahen Osten“ zugeordnet werden oder im südöstlichen Asien sind betroffen, wie auf dieser interaktiven Karte visualisiert.
In Europa leben mittlerweile 1 Millionen Personen die FGM durchlebt haben oder davon bedroht sind. Nicht wenige davon leben in Deutschland.
Es zeigt sich: FGM ist kein Verfahren, welches einem einzelnen Land, einer bestimmten Religion oder Kultur zuzuordnen ist. Deshalb variieren die Verfahren in ihrer Ausführung teilweise sehr. 
Laut WHO lässt sich die FGM jedoch in vier Typen einteilen, davon sind die ersten beiden am meisten Vertreten.
Der Typ I bezeichnet alle Verfahren in denen die Clitoris vollständig oder partiell entfernt oder beschädigt wird (Klitoridektomie) während beim Typ II ebenso die Schamlippen betroffen sind (Exzision) 
Beim Typ III werden, unabhängig davon, ob die Verfahren des Typ I und II stattgefunden haben, die Schamlippen zusammengenäht (Infibulation) Die zurückbleibende Öffnung ist verengt, das Ausmaß unterscheidet sich. Der Typ IV bezeichnet alle anderen verletzenden Eingriffe an den weiblichen Äußeren Genitalien. 
FGM wird ab dem Säuglingsalter vorgenommen und findet durchschnittlich zwischen dem 4. Und 12. Lebensjahr statt. 
Meist führen ältere Frauen* FGM unter unhygienischen Bedingungen und ohne Betäubung durch. Als „Werkzeug“ werden dabei Rasierklingen, Glasscherben, Scheren oder Findernägel verwendet. 
Die Begründungen für die Durchführung von FGM variieren stark so wie Traditionen in dessen Rahmen sie vorgenommen wird. Oft steht dabei die „Jungfräulichkeit“ der Betroffenen im Vordergrund. Die weiblichen Genitalien werden als schmutzig und hässlich betrachtet. Beispielsweise gibt es die Annahme, die Klitoris sei giftig und gefährde die Gesundheit aller, die sie berühren. Andere Gründe sind die Überzeugung einer Fruchtbarkeitssteigerung durch den Eingriff oder der vermeintliche Schutz vor der eigenen „unkontrollierbaren“ Sexualität oder Vergewaltigung. 
Diese Gründe sind alle höchst sexistisch und genauso entmenschlichend und gewaltvoll, wie der Eingriff selbst. Sie gehen alle mit dem Hauptgrund einher, dass ein gemeinschaftlicher Zugzwang herrscht. Nicht Betroffene werden stigmatisiert, als minderwertig und nicht heiratswürdig betrachtet oder sogar aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. 
Neben vielen akut-physischen Folgen, wie beispielsweise schweren Blutungen, einer Blasenlähmung oder einer Infektion mit HIV, haben Betroffene langfristig teilweise unaushaltbare Schmerzen beim Urinieren oder der Menstruation.
Die Folgen für die Sexualität variieren bei Betroffenen. Geschädigtes Lustempfinden und Abwesenheit von sexuellem Verlangen sind unter Anderem maßgeblichen von den psychischen Folgen des Eingriffs bestimmt. Die Traumata, die die Betroffenen durchleben mussten, können auch zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen. 
Die vermehrte Flucht aus Ländern, in denen FGM durchgeführt wird, kann in Deutschland erfolglos sein, wenn Betroffene Durchlebtes vor Behörden nicht detailliert und wiederholt Darstellen wollen oder können, beispielsweise weil sie an den genannten psychischen Folgen leiden. Erst seit 2004 ist FGM implizit als Fluchtursache im deutschen Gesetz verankert. Eine Anerkennung setzt aber neben der detaillierten Schilderung und damit evtl. einhergehenden Retraumatisierung auch bei Rückkehr drohende Menschenrechtsverletzungen voraus, welche bei Betroffenen ja bereits stattgefunden hat. 
Betroffene sind nach der Flucht häufig nicht nur stigmatisiert oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und haben gar keinen Ort mehr zu dem sie zurückkehren könnten. Eine Rückkehr ist, jedoch unabhängig vom exakten Grund, immer unzumutbar. 
Weiblich sozialisierte Personen, die in Deutschland leben und/oder aufgewachsen sind, durchleben FGM meist außerhalb Deutschlands in Ländern beziehungsweise Gemeinschaften, zu denen ihre Familien sich zugehörig fühlen (sog. „Ferienbeschneidung“). 
Um das zu verhindern wurde 2016 in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, welches in diesem Falle mit einem Entzug des Passes droht. Dieses Gesetz ist zwar ein Versuch Betroffene zu schützen, indem man durch Machtdemonstration des Staates abschreckt. Aufklärung von Familien und Schutzbefohlenen, um das Problem im Ansatz zu greifen findet von staatlicher Seite jedoch wenig statt.
Es gibt mittlerweile viele nicht-staatliche Organisationen, welche gegen FGM und für dessen Visibilität kämpfen, so die Desert Flower Foundation, welche von einer Betroffenen, Waris Dirie, gegründet wurde. 
Die Anatomische Rekonstruktion nach einer FGM wird mittlerweile in mehreren deutschen medizinischen Einrichtungen vorgenommen.
Trotzdem: Die wenigsten Menschen in Deutschland wissen, was FGM ist, weil kein kollektives Bewusstsein dafür herrscht. 
Ein Bewusstsein, das in einer patriarchalischen Gesellschaft, die weibliche Sexualität und Geschlechtsorgane tabuisiert auch nicht geschaffen werden kann. 
Diese weltweite Tabuisierung verwehrt Betroffenen den sicheren Zugang zu Hilfsangeboten. Aufklärung Leistenden können ihre Arbeit nicht uneingeschränkt ausführen. 
Es braucht eine Enttabuisierung weiblicher Lust, Schmerzen, Sexualität und Geschlechtsorgane!
Es braucht Aufklärung und das Handeln Verantwortlicher Staaten und Akteur*innen in Politik und Gesellschaft!
Doch vor allem muss den Betroffenen zugehört werden! 
In diesem Sinne endet dieser Text mit den Forderungen der Desert Flower Foundation!

Quellen und zum Weiterlesen:
Buch und Film: Wüstenblume von Waris Dirie
www.who.int/news-room/fact-sheets/detai…
www.desertflowerfoundation.org/de/home….
www.profamilia.de/fileadmin/dateien/fac…
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#4 Gender Bias in der medizinischen Forschung

Vorneweg: Wir als kritische Mediziner*innen sind der Überzeugung, dass das biologische Geschlecht sex ebenso wie das soziale Geschlecht gender fluide und die Einteilung in „Mann“ und „Frau“ längst überholt sind. (Lest dazu gerne noch mal den vorigen Text zu Medikalisierung von Geschlecht vom 3.3.21.)
Wissenschaft hängt jedoch von der Verfügbarkeit von Daten ab, die es bislang fast nur aus der androzentristischen Perspektive gibt. Daher lassen sich auch nur schwer wissenschaftliche Aussagen über bspw. Wirkung von Medikamenten bei intergeschlechtlichen Personen treffen – diese Daten werden bislang schlichtweg nicht erhoben. Die Bildung der Kategorien „Mann“ und „Frau“ in der Medizin ist ein erster Schritt weg von „Mann als Norm“. Klar ist aber, dass das Ziel die individualisierte Medizin ist, in der Patient*innen als Menschen betrachtet werden, die individuell verschieden sind und eine auf sie abgestimmte Therapie und Medikation benötigen.

Aristoteles behauptete, Frauen seien nichts anderes als „kleine Männer“. Diese Vorstellung scheint in der Medizin bis heute zu bestehen, denn hier gilt der männliche Körper nach wie vor als Norm. Alles von dieser Norm Abweichende wird als „atypisch“ oder „anormal“ qualifiziert. Dies wird am Beispiel Herzinfarktsymptomatik deutlich: Ein Herzinfarkt äußert sich bei jungen Frauen häufig in Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit oder Übelkeit. Diese Symptome werden oft als „atypisch“ bezeichnet, da sie von dem „klassischen“, in der Leitlinie beschriebenen Bild des Mannes mit in den linken Arm ausstrahlendem Brustschmerz, abweichen. Die Folge ist, dass Herzinfarkte bei Frauen von Ärzt*innen schlechter oder gar nicht erkannt werden, spät oder fehlerhaft behandelt werden und somit die Wahrscheinlichkeit nach einem Herzinfarkt zu sterben für Frauen höher ist als für Männer. Das British Medical Journal berichtet 2016: das Risiko für junge Frauen, im Krankenhaus zu sterben, sei fast doppelt so hoch wie das von Männern. Neben Unterschieden in Auftreten, Verlauf und Ausprägung von Krankheiten bei Männern und Frauen fanden Forscher*innen in nahezu jedem Gewebe und Organsystem des Körpers geschlechtsspezifische Unterschiede. So unterscheidet sich bspw. die Lungenkapazität von Frauen und Männern, auch wenn diese Werte in Relation zur Körpergröße betrachtet werden. Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es sogar auf Zellebene: beispielsweise variiert die Expression von Proteinen, die bei der Verstoffwechselung von Medikamenten in der Leber (Biotransformation) eine wichtige Rolle spielen und damit die Wirkung von Medikamenten maßgeblich beeinflussen. 
Es lässt sich also festhalten: Frauen sind nicht einfach kleine Männer!

Dennoch dominiert dieser Irrglaube auch in der Lehre: Beispielsweise in Anatomiebüchern werden zur Darstellung „neutraler“ Körperteile laut einer Studie dreimal mehr männliche als weibliche Körper abgebildet. Eine niederländische Studie von 2005 ergab, dass geschlechts- und genderspezifische Themen „nicht systematisch bei der Entwicklung des Curriculums berücksichtigt werden“. Wie sollen zukünftige Ärzt*innen für geschlechtsspezifische Unterschiede sensibilisiert werden, wenn dies kein Thema in der Ausbildung ist?

Um geschlechtersensible Medikamente und optimale Therapien zu entwickeln, bedarf es Forschung, die den Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit analysiert. Hier liegt ein Problem, denn weibliche (und intergeschlechtliche) Körper wurden weithin aus der medizinischen Forschung ausgeschlossen. 
Bis heute sind sie in Studien unterrepräsentiert. Obwohl beispielsweise 55% der HIV-positiven Erwachsenen in Entwicklungsländern Frauen sind und bekannt ist, dass HIV bei Frauen zu anderen klinischen Symptomen und Komplikationen führt, stellten sie laut einem Bericht über den Anteil von Frauen in der HIV-Forschung in den USA in antiretroviralen Studien nur 19,2% der Teilnehmenden; in Impfstudien waren es 38,1% und in Studien zur Heilung von HIV 11,1%. 
Besonders wenige Daten gibt es über die Behandlung von Schwangeren, da sie routinemäßig von klinischen Studien ausgeschlossen werden. Es ist verständlich, dass Schwangere zögern, an klinischen Studien teilzunehmen. Dennoch sollten Gesundheitszustand und Krankheitsverläufe systematisch erfasst und dokumentiert werden. Beim SARS-Ausbruch 2004 in China wurde dies nicht getan – die WHO erklärte später: „Aufgrund dieser Datenlücke war es nicht möglich den Verlauf und die Folgen von SARS während der Schwangerschaft vollständig zu beschreiben“. Solche Lücken hätten leicht vermieden werden können und diese wichtigen Informationen fehlten uns zu Beginn der Corona-Pandemie 2020. 
Ein weiteres Problem ist, dass die Forschung nach wie vor von (konservativen, weißen) Männern dominiert wird und das „Thema Gender“ als lästig empfunden wird. Eine Forscherin für öffentliche Gesundheit erzählte, sie habe auf zwei verschiedene Fördermittelanträge folgendes Feedback bekommen: „Ich wünschte, Sie würden mit diesem Geschlechterkram aufhören und sich wieder der Wissenschaft zuwenden“ und: „Ich arbeite seit 20 Jahren in diesem Bereich und der biologische Unterschied ist nicht von Bedeutung“. Dem liegt zugrunde, dass weibliche Körper für „zu komplex, zu variabel und zu teuer“ gehalten werden, um etwa in Medikamentenstudien miteinbezogen zu werden. Daher wundert es kaum, dass der Großteil der Medikamente nicht zu unterschiedlichen Zeiten des weiblichen Zyklus getestet wird. Das sei für die Forschung „zu kompliziert“, deshalb wird in der Regel in einem Zeitfenster des Zyklus getestet, in dem der Einfluss der weiblichen Hormone als relativ gering eingeschätzt wird. Im richtigen Leben jedoch spielen all diese Faktoren und Hormonschwankungen eine Rolle: Auswirkungen des Zyklus wurden bislang unter anderem bei Antihistaminika, Antibiotika, Herzmedikamenten und Antidepressiva festgestellt. 
Auch in der präklinischen Forschung ist der Data-Gap groß: Eine Untersuchung von 2007 ergab, dass 90% aller pharmakologischen Artikel nur Studien an männlichen Tieren beschreiben. Weibchen werden nicht einmal dann miteinbezogen, wenn es um hauptsächlich bei Frauen vorkommende Krankheiten geht. Das hat Folgen: Wenn ein Wirkstoff in der frühen Entwicklung bei Testung an männlichen Tieren keine Wirkung zeigt, wird die Studie i. d. R. verworfen ohne zu schauen, ob der Wirkstoff bei weiblichen Tieren anders wirkt. Wie viele Therapien kamen Frauen nur deshalb nicht zugute, weil sie keine Wirkung auf die männlichen Zellen hatten, an denen ausschließlich getestet wurde? Und andersherum: Wie viele Medikamente wirken eigentlich nur oder nur optimal bei Männern? Tatsächlich ist die häufigste Nebenwirkung von Medikamenten bei Frauen, dass das Medikament schlicht nicht wirkt. 
Bei Zellstudien sieht es nicht anders aus. Hier ist das größte Problem, dass die Studien das Geschlecht der Zelle oft gar nicht erst angeben. Ein Beispiel: Lange staunten Wissenschaftler*innen über die Unvorhersehbarkeit transplantierter, aus Muskeln gewonnener Stammzellen, die im kranken Muskel manchmal regenerierten, in anderen Fällen jedoch nicht. Erst spät wurde klar, dass es keineswegs unvorhersehbar war: es war abhängig vom Geschlecht der Zellen: weibliche Zellen fördern Regeneration, männliche nicht. 
Dazu kommt, dass selbst wenn zu gleichen Teilen an männlichen und weiblichen Zellen/ Tieren/ Proband*innen geforscht wird, die Ergebnisse oft nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt werden bzw. keine Erklärungen gegeben werden, weshalb der Einfluss des Geschlechts auf die Ergebnisse ignoriert wurde. 
Die Folge all dieser Mechanismen ist eine über lange Zeit entstandene Datenlücke hinsichtlich weiblicher Körper, die bewirkt, dass weibliche Körper in unserem System systematisch diskriminiert werden.

Es gibt Versuche, die Wissenschaft zur Berücksichtigung von weiblichen Körpern in der medizinischen Forschung zu verpflichten. 
In den USA beispielsweise müssen Frauen in mit öffentlichen Geldern finanzierte klinische Studien miteinbezogen werden und die Daten nach Geschlecht analysiert werden. Dies gilt seit 2016 auch für präklinische Studien und weibliche Tiere in Tierversuchen. Ähnlich sind Regelungen in der EU und Australien. Inzwischen fordern auch einige Fachzeitschriften geschlechterspezifische Daten als Bedingung zur Veröffentlichung. 
Analysen des National Institute of Health (NIH) in den USA zeigen jedoch, dass diese Regelungen schlecht durchgesetzt werden und viele Schlupflöcher bieten. So werden die meisten Studien in den USA von privaten Pharmaunternehmen durchgeführt und unterstehen damit kaum staatlichen Regularien, ebenso wie die Forschung an Generika.

Der Weg zur individualisierten Medizin (die übrigens auch vielen Männern, die nicht das Klischee des 70kg-Mannes erfüllen, zugute kommen würde) ist lang. Zuerst müssen die Datenlücken gefüllt werden. Dafür müssen systematisch so umfangreich wie möglich Daten über Krankheitsverlauf, biologische Voraussetzungen, Krankengeschichte etc. erhoben werden. Anschließend müssen die Daten analysiert werden und ihre Ergebnisse in der Entwicklung von Medikamenten aber auch in der medizinischen Praxis berücksichtigt werden. Des weiteren muss das Thema Gendermedizin dringend Bestandteil der Ausbildung werden – nicht nur im Medizinstudium, sondern überall dort, wo Forschung betrieben wird.