Das Solidarity Social Medical Center in Thessaloniki

Reisetagebuch Teil 7

In Athen haben wir immer wieder von der solidarischen Klinik in Thessaloniki gehört. Die älteste Klinik soll sie sein, und auf jeden Fall sehr sehenswert. Ob es wirklich die erste war, die eröffnet wurde, konnten wir nicht herausbekommen, dafür war unser Besuch hier auf andere Art besonders.

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Wir hatten die glückliche Gelegenheit, von einer Patientin und von einigen Ärzt*innen zu erfahren, wie sich der griechische Alltag und wie sich organisierte Solidarität tatsächlich anfühlen. Obwohl wir dieses Mal weniger Fakten über die Klinik sammeln konnten, hat uns der Besuch einen spannenden emotionalen Einblick gegeben.

Die Kommunikation mit der Klinik war nicht ganz leicht und letztendlich klopften wir einfach während der regulären Öffnungszeiten an die Tür. Wir wurden hereingelassen und an Maria verwiesen, eine Zahnärztin die recht gut Englisch sprach und seit dem Beginn der Klinik im November 2011 hier arbeitet. Maria war gerade in einem Gespräch und lud uns ein, mit zuzuhören. Eine junge Anthropologin aus Dänemark, Negar, war seit Juli damit beschäftigt, in der Klinik Material für ihre Abschlussarbeit zu sammeln. Sie interviewte eine Patientin und Maria übersetzte zwischen den beiden.

Unserem Verständnis nach ist die Geschichte der Patientin typisch für große Teile der griechischen Bevölkerung, darum schreiben wir dieses Beispiel so ausführlich auf, wie wir es gehört haben. Weiter unten findet ihr die Aussagen einiger Ärzt*innen zu ihren Erfahrungen in der Klinik.

Die Patientin war eine magere ältere Dame, mit ordentlich gemachtem blondem Haar und Kleidung, die auch an Jüngeren modisch gewirkt hätte. Als wir hereinkamen beschrieb sie gerade, wie sie und ihr Mann 2003 ihre Firma verloren hatten. Die Währungsumstellung zum Euro hatte damals vielen Unternehmen im privaten Sektor zu schaffen gemacht und bei ihrem Geschäft sei dazu noch die Konkurrenz internationaler Konzerne wie Zara gekommen, die in Griechenland keine Steuern zahlen, und die der billigen Kleidung aus China. Seitdem lebe sie ohne
Versicherung, glücklicherweise aber bis zu den neuen Problemen mit ihrer Schilddrüse bei guter Gesundheit. Sie und ihr Mann wohnen seit einiger Zeit mit ihren beiden Töchtern zusammen, die mit ihrem Einkommen die ganze Familie versorgen. Dabei sei ihr Einkommen mit jeweils etwa 300 Euro so niedrig, dass sie nicht alleine leben könnten, selbst wenn ihre Eltern sich finanziell selbst versorgen könnten. Die Lebenshaltungskosten in Griechenland sind hoch, mit denen in London
seien sie vergleichbar, während das Durchschnittseinkommen eher auf bulgarischem oder kroatischem Niveau liege.

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Als die Anthropologin fragte, mit welchen Verkehrsmitteln sie zur Klinik gekommen sei, kamen der Frau die Tränen. Mehrere Minuten lang sprachen Maria und sie auf Griechisch miteinander. Die Frau weinte während sie sprach, versuchte sich zu fassen, und Maria hielt ihre Hand. Dann versuchte Maria ihre Antwort zu erklären. Sie käme manchmal mit dem Bus, manchmal aber zu Fuß, um mit dem gesparten Fahrgeld Brot zu kaufen. Sie habe weinen müssen, weil sie mit 60 Jahren völlig von
ihren Töchtern abhängig sei und selbst keine Mittel habe, für ihre Familie etwas beizutragen, als den Weg zu Fuß zu gehen, um einen zusätzlichen Euro für Nahrungsmittel zu sparen. Sie fühle sich schuldig und nutzlos, und habe Angst ihren Töchtern zur Last zu fallen. Ihr ganzes Leben habe sie gearbeitet und trotzdem ihre Firma verloren. Seither habe sie keine neue Arbeit gefunden. Maria erklärte, in Griechenland sei es sehr schwer, sich umschulen zu lassen. Viele Menschen litten unter Stress und Depressionen, weil sie keinen Weg fänden, etwas Neues anzufangen.

Negar bot an, das Interview abzubrechen, um die Patientin nicht weiter zu belasten. Die ältere Dame verneinte aber vehement und wollte weiter erzählen und erklären, dass bei ihr nicht alles schlecht sei. Schließlich habe sie das große Glück gehabt, vor der Krise ein gutes Leben gehabt zu haben, persönlich ebenso wie beruflich, und sie erfreue sich in schwierigen Momenten an den Erinnerungen. Selbst wenn sie manchmal den materiellen Mangel spüre, habe sie doch Gesundheit und Familie und lebe mit den Menschen zusammen, die ihr am Liebsten seien. Sie glaube an Gott und erinnere sich oft daran, was sie als Kind von ihren Eltern gelernt habe. All das helfe ihr, ein Gefühl von Anständigkeit zu wahren, obwohl sie nicht daran glaube, dass sich die Situation in Griechenland zum Guten ändern könne.

Maria gab uns ein bisschen Kontext zu den Erzählungen der Patientin: Griechenland hat elf Millionen Einwohner*innen, davon leben inzwischen drei Millionen unter der Armutsgrenze. Vielen Familien aus der Mittelschicht hätten ähnliche Geschichten erlebt und obwohl sie längst keine Minderheit in der Bevölkerung mehr seien, scheine es, dass ihre neue Armut sie zu sehr lähme, um sich dagegen aufzulehnen. Wie die Patientin erzählte, würden sich viele zwischen der neuen Sorge um ihr tägliches Brot und der Scham für ihre Notlage verlieren. Sie blieben allein, anstatt zu begreifen, wie viele in der gleichen Situation seien. Andererseits gibt es aber auch den Anteil der Mittelschicht, der noch nicht von der Krise ruiniert wurde und weiterhin daran glaubt, dass er immun sei. Das seien die Menschen, die für die Rechten und für die Memoranda stimmen, erzählte Maria.CAM00035

Nachdem die Patientin gegangen war setzte sich eine junge Zahnärztin zu uns. Sie hieß Zoy, was “Leben” bedeutet, und arbeitet seit zwei Jahren in der Klinik. Außerdem hat sie vor sechs Monaten ihre eigene Praxis aufgemacht und hoffte, dass sie sich herumspräche und sie demnächst von ihrer eigenen Patient*innenbasis leben könnte. Fünf Jahre habe sie sich gegeben, erzählte sie, wenn es dann nicht gut laufe, werde sie ihre Heimatstadt wohl doch verlassen müssen. Vor der Klinik hatte sie sich nie ehrenamtlich betätigt oder sozial engagiert, aber vor zwei Jahren, als sie gerade keinen festen Job hatte, hörte sie gleichzeitig von ihrem Cousin und über die lokale Zahnärzt*innen-Emailliste von der Klinik. Seitdem arbeitet sie ungefähr zwei Schichten im Monat hier und möchte gerne noch mehr tun. Sie genießt die Freundlichkeit der Patient*innen in der Klinik, die sich bei ihr für ihre Arbeit bedanken, während die Patient*innen in ihrer Praxis davon ausgehen, dass sie für ihre Bezahlung sowieso alles zu leisten habe. Zoy erzählte, sie habe in den zwei Jahren gemerkt, dass sie ohne Geld tatsächlich besser arbeitet. Obwohl der Klinik oft
Material fehlt, sei sie weniger gestresst, genieße die Zusammenarbeit mit den anderen Ärzt*innen und lerne von ihnen Tricks, um Zeit und Geld zu sparen.

Auch der 44-jährige Zahnarzt Giannis erlebt die solidarische Arbeit als befriedigender im Vergleich zu seinem bezahlten Job: “For me it’s psychotherapy. I come here empty and I leave here full: full of experience, full of good words from the patients. It’s nice to work without expecting something.” (“Für mich ist es wie Psychotherapie. Ich komme leer hier an und gehe erfüllt: erfüllt von Erfahrungen und den freundlichen Worten der Patient*innen. Es fühlt sich gut an, ohne Erwartungen zu arbeiten.”) Auch er hat seine eigene Klinik, aber in den letzten vier Jahren kommen die Patient*innen nur noch im Notfall und schieben alles andere auf, weil sie es nicht bezahlen können. Er arbeite 40% weniger und werde dafür auch noch 40-50% weniger bezahlt. Darum spielt er mit dem Gedanken auszuwandern. Es gehe ihm nicht ums Geld, betonte er, sondern darum, dass er das Gefühl habe, durch seine Arbeit viel geben zu können, hier aber nicht genug Arbeit finde, um seine Energie anwenden zu können. In 15 Jahren werde er sowieso anfangen abzubauen.

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In der Klinik arbeiten 55 Zahnärzt*innen, neben den vielen anderen Fachrichtungen, die wir nicht angetroffen haben. Sie kommunizieren untereinander über Emails und besprechen einmal im Monat in einem eigenen Plenum ihre Arbeitslast und alles, was in ihrem Bereich anfällt. Zusätzlich nehmen viele am großen Plenum der Klinik teil, dass als Entscheidungsorgan größtmögliche Übereinstimmung oder Konsens anstrebt. Wenn Mehrheitsentscheidungen getroffen werden, bleiben sie revidierbar. Wie die anderen Kliniken, die wir besucht haben, sieht auch die Klinik in Thessaloniki einen großen Teil ihrer Aufgabe in der politischen Arbeit für ein frei zugängliches und kostenloses Gesundheitssystem für alle in Griechenland, für die Untergrabung von Machtverhältnissen und Hierarchien, und für die Anerkennung von Gesundheit als öffentliches Gut. Die Klinik bezeichnet ihre Arbeit selbst als antirassistisch und antifaschistisch. Im August schickte sie eine Delegation von Ärzt*innen und Psycholog*innen auf die Inseln, um in den Camps der Flüchtenden zu arbeiten. Auch in Thessaloniki selbst werden vielen Migrant*innen behandelt. Vor zwei Jahren sollen es etwa 70% gewesen sein, aber in letzter Zeit wenden sich auch immer mehr Griech*innen an diese Adresse.

Vor diesem Hintergrund war es interessant, von Giannis zu hören, dass er sich als gänzlich unpolitisch sieht. Bisher ist er der einzige, der nicht die Wichtigkeit der solidarischen Arbeit für die politische Entwicklung der Patient*innen betonte. Er erzählte, er glaube nicht daran, dass die Leute bereit seien, von ihm irgendetwas politisches zu hören, und noch weniger seien sie bereit dafür, etwas zu tun.
Trotzdem sagt er, arbeite er nicht nur als Zahnarzt, sondern rede mit den Menschen. Vor allem höre er zu. Und obwohl er den politischen Sinn der Kliniken so anders bewertet, gab er uns eine großartige Beschreibung dessen, was solidarische Arbeit bedeutet:

“People come here to get free of their pain and their pain is not only dental. Sometimes I do no dental work at all, and still the people leave satisfied.” (“Die Menschen kommen her um von ihren Schmerzen befreit zu werden, aber Schmerzen haben sie nicht nur am Zahn. Manchmal mache ich zahnärztlich überhaupt nichts und trotzdem sind sie zufrieden, wenn sie gehen.”)

 

die Homepage der Klink: http://www.kiathess.gr/

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