Medizin im Nationalsozialismus

Die Charité stellte ein zentrales Organ der menschenverachtenden Medizin im Nationalsozialismus dar. Sieben der 23 Angeklagten des Nürnberger Ärzteprozess 1946/47 arbeiteten an der medizinischen Fakultät Berlin.

Exemplarisch möchten wir, auch mit Blick auf die Umbennungsaktion vom Juli 2018, Ferdinand Sauerbruch und Karl Bonhoeffer porträtieren. Die beiden wurden nach dem Krieg nicht verurteilt und werden heute noch auf dem Campus der Charité in Mitte – unkommentiert – geehrt, indem man ihnen jeweils einen Weg und Sauerbruch dazu einen Hörsaal widmet.

 

Die Rolle Ferdinand Sauerbruchs im Nationalsozialismus

Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875-1951) erlangte große Bekanntheit durch spektakuläre Operationen und innovative Operationsmethoden. Viele Prominente seiner Zeit wurden von ihm behandelt. Zudem leitete er die chirurgischen Universitätskliniken in Zürich und München, bis er 1927 an die Charité in Berlin berufen wurde.

„Durch öffentliche Verlautbarungen und Auftritte unterstützte Sauerbruch seit 1933 das NS-Regime.“ Dabei reichten seine Sympathien für Adolf Hitler und dessen Politik bis zum ersten Weltkrieg und dem Putsch der Nationalsozialisten 1923 in München zurück, wo er damals schon Hitler persönlich kennenlernte. Für Sauerbruch vertraten die Nazis die „große Idee einer nationalen Erhebung“, er dankte ihnen für die „Umgestaltung des völkischen Lebens“. Als deutschnational gesinnter Antidemokrat begrüßte er das Ende der Weimarer Republik, die für ihn einen „entwürdigenden Abschnitt deutscher Geschichte“ darstellte. Auch ließ er sich bereitwillig für die Kampagne der Faschisten anlässlich des Austritts aus dem Völkerbund instrumentalisieren.  In Hinblick auf Sauerbruchs Popularität half dieser durch seine Unterstützung, das Ansehen der Nazis in der Bevölkerung und besonders auch im Ausland zu stärken.

Die Nazis bedachten ihn im Austausch mit Ämtern und Auszeichnungen. 1934 ernannten sie ihn zum Staatsrat, 1936 wurde ihm der „Deutsche Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft“ verliehen, ein Preis, der eigens als Reaktion auf die Verleihung des Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky – der derweil im KZ interniert war – geschaffen wurde. „Die Auszeichnung durch den Führer“ war für Sauerbruch „Ehre und Freude“. 1942 wurde er zum Generalarzt ernannt und erhielt von Karl Brandt, Hitlers Leibarzt und später im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses verurteilter Nazi-Verbrecher, das Ritterkreuz zum Kriegsverdienstkreuz.

„Als Sachverständiger [im Reichsforschungsrat] befürwortete er medizinische Experimente in Konzentrationslagern und wurde über deren Fortgang informiert.“ Als Fachspartenleiter entschied er völlig unabhängig über die vorgelegten Anträge, bspw. auch die Josef Mengeles. Somit war auch er Teil der faschistischen Vernichtungsmaschinerie. Nach dem Krieg gab er offen zu, von Menschenversuchen im KZ Ravensbrück gewusst zu haben. „Daran Kritik zu üben“, so sein Rechtsanwalt, sei für „Herrn Geheimrat Sauerbruch aus Gründen des Taktes und seiner militärischen Dienststellung unmöglich gewesen.“ Im Rahmen der Entnazifizierung fällt Sauerbruchs Mittäterschaft jedoch nicht auf.

Obwohl Sauerbruch nie der NSDAP beitrat, mutmaßlich 1940 Proteste gegen das Euthanasieprogramm unterstützte und Antisemitismus prinzipiell ablehnte, so bekleidete er doch eine zentrale Position im NS-Gesundheitswesen. Auch seine ideologische Nähe zum Faschismus gibt Anlass, das Narrativ des selbstlosen Lebensretters zu verwerfen und ihn abseits aller Verklärung historisch adäquat einzuordnen: Ferdinand Sauerbruch war Profiteur, Sympathisant und Mittäter im Nazi-Regime.

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Dewey, Marc; Schagen, Udo; Eckart, Wolfgang U.; Schönenberger, Eva (2006): Ernst Ferdinand Sauerbruch and his ambiguous role in the period of National Socialism. In: Annals of surgery 244 (2), S. 315–321. DOI: 10.1097/01.sla.0000218191.68016.cf.

Eckart, Wolfgang U. (2016): Ferdinand Sauerbruch – Meisterchirurg im politischen Sturm. Eine kompakte Biographie für Ärzte und Patienten. 1. Aufl. 2016. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (essentials). S.21-42

Sauerbruch – Tod des Titanen. In: DER SPIEGEL 47/1960, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43067521.html

Fettgedrucktes lässt sich in der Ausstellung „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte – Die Charité im Nationalsozialismus und die Gefährdungen der modernen Medizin“ in der alten Nervenklinik der Charité Berlin nachlesen.

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Karl Bonhoeffer und die ZwangsSterilisation psychisch Kranker

Karl Bonhoeffer (1868-1948) leitete die psychiatrische Klinik der Charité von 1912 bis 1938. Der protestantischen Oberschicht entstammend widersprach die Grobheit und Deutschtümelei der Nazis wie auch deren Antisemitismus seinem Selbstverständnis als Teil der Bildungselite. Anders als sein Nachfolger, der Nazi-Verbrecher Max de Crinis, war Bonhoeffer kein Nationalsozialist.

Dennoch entsprach sein Menschenbild in großen Teilen der sozialdarwinistischen sowie chauvinistischen Sichtweise der Nazis. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts publizierte Bonhoeffer, damals noch in Breslau tätig, die sogenannte ‚Bettlerstudie‘. Die Probanden waren für ihn „gewohnheitsmäßige soziale Parasiten“, in ihrer Gesamtheit eine „parasitäre Bevölkerungsschicht“. Darüber hinaus waren für ihn Menschen mit psychischen Erkrankungen, seine Patient*innen, „geistig Minderwertige“. Dies kann als Erklärung für seine Einstellung zur Eugenik dienen.

Noch 1923 lehnte Bonhoeffer als Gutachter einen Vorschlag für ein eugenisches Sterilisationsgesetz ab, da er es als ungeeignetes Mittel zur ‚Ausmerzung‘ einer Krankheit ansah. Der Einfluss genetischer Faktoren konnte nämlich selten zweifelsfrei festgestellt werden. Es deckte auch nur die Fälle innerhalb der Anstalten ab, was seiner Ansicht nach “nicht ins Gewicht fiele gegenüber der Überzahl der im freien Leben befindlichen gesunden“. Zudem ließe sich eine Erkrankung nur phänotypisch identifizieren, die betroffenen Träger*innen müssten nach Bonhoeffer jedoch gleichsam sterilisiert werden, damit die Methode wirksam wäre. Mit dem Wissen verblüfft sein Engagement zehn Jahre später für die nationalsozialistische Eugenik. Nach der Verabschiedung des Gesetzes ‚zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ 1933 führte er nämlich Fortbildungsveranstaltung zur Anwendung ebenjenes Gesetzes durch. Als Obergutachter am Erbgesundheitsgericht entschied Karl Bonhoeffer über die Zwangsterilisation psychisch kranker Menschen. Damit griff er nicht allein nur in die sexuelle sowie persönliche Selbstbestimmung der Opfer ein, sondern setzte die Selektionspraxis der Nationalsozialisten um und führte damit die systematische Diskriminierung von Menschen mit psychischen Erkrankungen fort. Als Autorität seines Faches und durch seinen Anspruch möglichst ‚objektiv‘ zu urteilen gab er der Menschenverachtung einen wissenschaftlichen Anstrich. Es gab für ihn einzig die Möglichkeit „zu hemmen“, rechtfertigt er sich ex post.

Doch noch nach dem Krieg gab es für Bonhoeffer keinen Zweifel: der Weg der Sterilisation war richtig! In einem Artikel aus dem Jahre 1949 rechtfertigt er die Eugenik, als einen „Gedanke[n] des Kampfes gegen erbliche Entartung“, der älter als die Rassenhygiene der Nazis sei. Dabei hebt er die Vorteile des ‚Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘ hervor. Schließlich fehlten „rassenpolitische“ und „kriminalpolitische Gesichtspunkte“. „Als weitere Sicherung gegen Mißbrauch ist das Verfahren gerichtlich.“ In den Wirren der Nachkriegsjahre müsse „die Frage der genischen Aufbesserung späterer Generationen zurücktreten“ und erzieherischen Maßnahmen vorerst weichen.

Die Annahme, dass ‚wertes‘ neben ‚unwertem‘ Leben existiert, stellte Bonhoeffer nie in Frage.

„Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“ – Leo Alexander

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Bonhoeffer, K. (1949): Ein Rückblick auf die Auswirkung und die Handhabung des nationalsozialistischen Sterilisationsgesetzes. In: Der Nervenarzt 20 (1), S. 1–5.
Helmchen, H. (2015): Bonhoeffers Position zur Sterilisation psychisch Kranker. In: Der Nervenarzt 86 (1), S. 77–82. DOI: 10.1007/s00115-013-3999-x.