Stellungnahme zur Alterszwangsfestsetzung

Alterszwangsfestsetzung bei

unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten 

Stellungnahme der Kritischen Mediziner*innen  Stellungnahme PDF

1. Anlass

Flucht vor Krieg, Verfolgung, Armut und Hunger ist kein neues Phänomen. Mit Beginn des Ersten Weltkrieges gab es immer wieder Zeiten, in denen eine große Zahl an Menschen gezwungen wurde ihre Heimat zu verlassen und in Länder zu fliehen, die Mitschuld an den miserablen Bedingungen in den jeweiligen Heimatländer tragen.

Die Art und Weise allerdings, wie mit Geflüchteteten umgegangen wird, hat sich im Laufe der Zeit drastisch verschärft. Im Jahr 2015 wurden laut dem EASY System 1,1 Millionen Geflüchtete in Deutschland registriert. Bei 82 Millionen Einwohner*innen stellt dies eine relativ geringe Anzahl dar, ganz im Gegensatz zum Libanon, welcher bei 4 Millionen Einwohner*innen 1 Millionen Menschen auf der Flucht aufgenommen hat. Trotzdem greift in Deutschland eine angestbesetzte, undifferenzierte und durch rassistische Motive geprägte Debatte um sich, die zu zahlreichen Gesetzesverschärfungen durch die amtierende Bundesregierung geführt hat. Die aus dem rechten Lager kommenden Forderungen tragen hauptsächlich einen populistischen Charakter, für die Betroffenen haben diese Gesetzesverschärfungen allerdings weitreichende Konsequenzen.

Zur Zeit wird ein Großteil der Geflüchteten in Turn- und Lagerhallen massenweise untergebracht, die Zustände dort werden von Betroffenen als auch Unterstützer*innen als bestenfalls ungenügend bezeichnet. Auch in Berlin gibt der Senat sich bemüht aber überfordert, obwohl würdiger Wohnraum in Form von aktuellem Leerstand zur Verfügung stehen würde. Insbesondere die Gruppen, die besonders schutzbedürftig sind wie Frauen und Kinder, haben einen Anspruch auf gesonderte und kind- bzw. jugendgerechte Unterbringung.

Über 50000 minderjährige unbegleitete Geflüchtete kamen 2015 nach Deutschland. Viele Minderjährige haben keine amtlichen Dokumente, mit denen sie ihr Alter beweisen können. Gibt ein Mensch bei behördlichem Erstkontakt ein Alter unter 18 Jahren an, wird er der Obhut des Jugendamtes unterstellt. Wird bei der dann folgenden „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ im Zuge der Inobhutnahme das angegebene Alter durch Sachbearbeiter*innen des Jugendamtes in Zweifel gezogen, kann in Berlin beim Familiengericht  das Verfahren zur Alterszwangsfestsetzung beantragt werden. Hierbei soll durch sogennante Fachkräfte eine Aussage über das biologische Alter eines Menschen getroffen werden. Der Einzelpreis für ein solches Altersgutachten beläuft sich in Berlin auf knapp 1450 Euro. In Berlin fanden laut dem Abgeordnetenhaus Berlin im Jahr 2014 bei 228 von insgesamt 1082 jungen Geflüchteten Ladungen zur Altersfestsetzung statt. Gutachten wurden bis November desselben Jahres für 136 Personen erstellt, wovon 111 mal Volljährigkeit attestiert wurde. Bei Nicht-Erscheinen trotz (wiederholter) Ladung wurde teilweise der Antrag zurückgenommen. Über die möglichen Folgen einer Verweigerung des Verfahrens von Seiten der geflüchteten Person schreibt die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft (Berlin, Februar 2016): „Sollte die Untersuchung durch sein oder ihr schuldhaftes Verhalten nicht durchgeführt werden können bzw. sollte diese verweigert werden, ohne dass hierfür ein wichtiger Grund im Sinne des § 65 SGB I vorliegt, handelt es sich um einen Verstoß gegen die Mitwirkungspflicht. Über die Folgen fehlender Mitwirkung gem. § 66 SGB I werden die Kläger und Klägerinnen ausführlich belehrt und darauf hingewiesen, dass die Inobhutnahme ohne Mitwirkung beendet werden kann.“ 1 Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery äußerte sich dazu kritisch:“Dass Jugendliche in die Gruppe der Erwachsenen eingeteilt werden, wenn sie an der Untersuchung nicht mitwirken, konterkariert die vorgebliche ‚Freiwilligkeit‘ und ist weder menschlich noch medizinisch gerechtfertigt”.

Hintergrund für die Durchführung der Alterszwangsfestsetzung ist die Differenz der Kosten, die für minderjährige oder aber für volljährige Geflüchtete „investiert“ werden. Minderjährige haben in Deutschland Anspruch auf spezielle Unterbringung in einer Einrichtung der Kinder-und Jugendhilfe, ein Recht auf sofortigen Zugang zu Schule und Ausbildung sowie auf einen Vormund. Kosten, die für Geflüchtete über 18 Jahren nicht aufgebracht werden müssen. Die Vorteile einer Minderjährigkeit, wie Abschiebeverbot und besonderer Schutz, sollen so wenig Menschen wie möglich zuteilwerden. Im Folgenden wird für die angewandte Methodik der Begriff „Alterszwangsfestsetzung“ anstelle von „Altersfeststellung“ verwendet, da es sich um eine willkürliche Festlegung handelt, die einer, wie teils behaupteten, wissenschaftlich fundierten Grundlage entbehrt.

2. Methodik der Alterszwangsfestsetzung

In Deutschland gibt die Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD) der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin Empfehlungen zur Methodik heraus. Welche Methoden der Alterszwangsfestsetzung zum Einsatz kommen, ist auf Länderebene geregelt, jedoch sind die genauen Verfahrensweisen nicht gesetzlich festgelegt. Während die meisten Bundesländer mittlerweile ausschließlich auf sogenannte „Clearinggespräche“ zurückgreifen, können in Berlin und Hamburg zusätzlich medizinische Gutachten auf der Basis von körperlicher Untersuchung und apparativer Diagnostik durchgeführt werden, so zum Beispiel im Land Berlin durch das Rechtsmedizinische Institut der Charité. Laut Institutswebsite wird das biologische Alter durch folgende Methoden, zusammenfassend als „forensische Altersschätzung“ bezeichnet, festgelegt:

  1. a)    Untersuchung und Anamnese durch einen rechtsmedizinisch erfahrenen Arzt im Hinblick auf allgemeine körperliche Reifezeichen sowie Hinweise auf mögliche Entwicklungsstörungen;
  2. b)    wenn notwendig, zusätzlich eine zahnärztliche intraorale Untersuchung;
  3. c)    wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung der linken Hand zur Ermittlung des Ossifikationsstadiums vom Handskelett;
  4. d)    wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung des Ober- und Unterkiefers (Panoramaschichtaufnahme, OPG) zur Feststellung der Wurzelentwicklung der Weisheitszähne und weiterer altersrelevanten Merkmale im Zahn- und Kieferbereich;
  5. e)    wenn notwendig, zusätzlich eine radiologische Untersuchung der Schlüsselbeine mittels CT zur Ermittlung des Stadiums der knöchernen Entwicklung an medialen Schlüsselbeinepiphysen-Regionen.2
  6. Vorstellung der verschiedenen Standpunkte

Die Methodik der Alterszwangsfestsetzung wird unter Mediziner*innen und in Fachkreisen seit geraumer Zeit kontrovers diskutiert. Im Folgenden möchten wir zu den verschiedenen Punkten Stellung nehmen und unsere Argumente erläutern.

Röntgen / Computertomographie (CT):

Ein Rückschluss von biologischem Alter als Produkt aus kalendarischem Alter und körperlichen sowie seelischen Einflüssen auf das chronologische Alter ist prinzipiell schwer möglich. Laut der AGFAD ist jedoch die Röntgenuntersuchung des Handskeletts, eventuell erweitert um eine röntgenologische Untersuchung des Zahnskeletts oder eine CT-Aufnahme der Schlüsselbeine, die beste Methode zur „forensischen Altersschätzung“. So argumentiert die Fachgesellschaft in den aktualisierten Empfehlungen von 2008, dass Knochenreife genetisch determiniert sei: „So decken sich Wachstumskurven eineiiger Zwillinge sehr weitgehend“. Dass jedoch bei der Alterszwangsfestsetzung nicht Zwillinge sondern Individuen verglichen werden, deren externe lebensraumspezifische Umwelteinflüsse sich stark voneinander unterscheiden, wird außer Acht gelassen. Auch, dass kaum aussagekräftige, aktuelle Referenzstudien und populationsspezifische Vergleichswerte vorliegen, kümmert wenig. Es liegen zwar Studien für deutsche, japanische und „schwarzafrikanische“ Subpopulationen vor, doch werden diese auch herangezogen, um Menschen aus dem arabischen Raum einzuschätzen. Zudem zeigen sich in allen Studien hohe Standardabweichungen von plus minus zwei bis drei Jahren, so dass es nicht möglich ist punktgenaue Rückschlüsse auf das Geburtsdatum zu ziehen, wie es aufgrund der weitreichenden Konsequenzen bei Festsetzung der Volljährigkeit aber notwendig wäre. Es ist somit keinesfalls garantiert, dass das festgesetzte Alter dem tatsächlichen Alter der geflüchteten Person entspricht. Beispielhaft kann man hierzu die Studie von Bassed et al. anführen, die zeigen konnte, dass sich allein bei der Altersdefinition der linken und rechten Schlüsselbeinepiphyse das geschätzte Alter desselben Individuums um bis zu drei Jahre unterscheiden kann.

Als zweites entscheidendes Argument lässt sich die Strahlenbelastung anführen, welcher die Betroffenen durch Röntgen oder CT ausgesetzt sind. Laut § 23 der Röntgenverordnung (RöV), darf Röntgenstrahlung am Menschen unmittelbar nur angewendet werden, wenn „die rechtfertigende Indikation“ die Festellung erfordert, „dass der gesundheitliche Nutzen der Anwendung am Menschen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt.“ Für uns ist nicht ersichtlich, worin der gesundheitliche Nutzen für Beroffene bei der Alterszwangsfestsetzung liegt. In einem Artikel über forensische Altersdiagnostik schreibt Dr. med Andreas Schmeling, ein Mitglied der AGFAD, dass Röntgenuntersuchungen in diesem Rahmen ohne medizinische Indikation erfolgen  „die Rechtsprechung zur Frage der Zulässigkeit von Röntgenuntersuchungen außerhalb von Strafverfahren [ist] uneinheitlich (sei)“. Dies kann unserer Meinung nicht die Grundlage sein, auf der solche Methoden zum Einsatz kommen. Zudem distanzieren wir uns von der Diskussion, ob die jeweilige Strahlendosis über oder unter dem jährlich „unbedenklichen“ Bereich liege, da jede zusätzliche Strahlenbelastung im Hinblick auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit zu vermeiden ist. Zudem schreibt die AGFAD selbst in ihren Empfehlungen, dass „Radiologische  Untersuchungsbefunde der Zähne oder des Handskeletts  oder  weitere  radiologische Merkmale der individuellen Reifung [dürfen] aufgrund der rechtlichen Gegebenheiten nur herangezogen  werden (dürfen),  wenn  identitätsgesicherte  Aufnahmen  mit  bekanntem  Entstehungszeitpunkt bereits vorliegen.“ 3
Da die von der Alterszwangsfestsetzung Betroffenen diesem Procedere ja ausgesetzt werden, weil sie ihr Alter nicht durch Dokumente nachweisen können und ihre Leistungansprüche (was u.a. die medizinische Versorgung betrifft) geklärt werden sollen, dürfte es höchst unwahrscheinlich sein, dass sie datiertes radiologisches Vergleichsmaterial mit sich führen bzw. solches bereits durch eine*n deusche*n Mediziner*in angefertigt wurde.

Magnetresonanztomographie (MRT) / Ultraschall:

Auch die angeführten alternativen bildgebende Verfahren ohne ionisierende Strahlung wie die MRT- oder Ultraschall-Untersuchungen des Handskeletts und/oder der Schlüsselbeinepiphysenfugen lehnen wir ab.
Die Vorteile der Untersuchung durch ein MRT lägen in der Wenigerbelastung des*der Geflüchteten argumentiert die AGFAD. Trotzdem setzt sich die Verbindung des chronologischen Alters mit dem Anspruch auf „Grundrechte“ ohne Berücksichtigung des sozio-kulturellen Alters fort. Genauso beinhaltet die MRT-Untersuchung die Ungenauigkeit der Festsetzung und die Gefahr der Retraumatisierung. An der Charité gab es bereits 2013 einen dokumentierten Fall (mit dem Hinweis auf weitere Vorfälle), bei dem ein Betroffener sich zu suizidieren drohte, nachdem er zwangsweise einer MRT-Untersuchung unterzogen werden sollte. 4 Das Fehlen medizinischer Indikation bei der Untersuchung stellt auch hier ein fragwürdiges medizinisch-ethisches Verhalten in dem Sinne dar, dass politisch-ökonomische Werte den Grundwerten des Ärzt*innen-Ethos vorgezogen werden.
Somit sprechen wir uns deutlich gegen die MRT-Untersuchung als eine weitere inhumane, ummedizinische und juristisch nicht gerechtfertigte Untersuchung aus.

3. Kritik an den Verfahrensweisen

Mangelnde Wissenschaftlichkeit

Wir sprechen uns entschieden gegen die aktuellen Verfahren der Alterszwangsfestsetzung aus. Ihre sogenannte Evidenz basiert auf fragwürdiger wissenschaftlicher Grundlage. Es liegt lediglich eine verschwindend geringe Zahl an veralteten Studien vor, auf die sich die Verfahren berufen können (beispielsweise  wird auf die anerkannten  Referenzarbeiten  von  Berkowitz  u.  Bass  (1976), Flügel et al. (1986), Marshall u. Tanner (1969 u. 1970) und Müller (1983) verwiesen). Es ist keineswegs wissenschaftlich garantiert, dass das Alter, welches durch die Verfahren bestimmt wird, das wirkliche Alter des oder der Geflüchteten ist. Während beim 117. deutschen Ärztetag 2014 beschlossen wurde, dass das Knochenröntgen oder CT bei UMF unter anderem wegen der mangelnden Genauigkeit „medizinisch nicht vertretbar sei und zu diesem Zwecke nicht mehr angewendet werden dürfe“ beruft sich die AGFAD darauf, dass diese Beschlüsse nicht bindend seien und vertritt eine Weiterführung der gängigen Praxis. Dass die EU die von AGFAD-Vorsitzendem Schmeling initiierte MRT-Studie zur Alterseinschätzung von UMF mit Fördergeldern unterstützt, halten wir in Anbetracht der oben genannten Argumente für höchst bedenklich.

Ärztliche Ethik

Neben der Frage nach wissenschaftlicher Evidenz, stellt sich auch die nach der ärztlichen Verantwortung. Diese liegt darin, immer (!) zum gesundheitlichen Wohle des*der Patient*in zu handeln. Im Zuge der Alterszwangsfestsetzung wird diese Verantwortung jedoch verletzt und die Fachkompetenz des*der Untersuchenden zweckentfremdet und missbraucht, durch medizinisch indikationslose Untersuchungen potentiell traumatisierter und durch ihre Gesamtsituation hoher Stressbelastung ausgesetzter Kinder und Jugendlicher.

Ein Zitat von Dr. med. Andreas Schmeling macht diesen Missbrauch selbst deutlich: „Zu Beachten ist, dass der medizinische Sachverständige nicht im Rahmen des vom Fürsorgeprinzip getragenen Arzt-Patienten-Vertrages tätig wird, sondern zu strikter gutachterlicher Neutralität verpflichtet ist.“ Auch im Rahmen der Medizinethik sind wir der Meinung, dass der Ärzt*innenberuf sich von dem neutralen Gutachter*innen unterscheidet, insbesondere fehlt uns die gesetzlich-rechtliche Grundlage für Gutachter*innentätigkeiten gegen das Patient*innenwohl.

Im seinem Beitrag im deutschen Ärzteblatt weißt Dr. Schmeling explizit daraufhin, dass „politische und ethische Aspekte der Altersdiagnostik“ nicht Gegenstand des Beitrags seien. Ärztliches Handeln muss jedoch immer ethisch vertretbar sein, insofern darf diese Diskussion nur unter Berücksichtigung ebenjener Aspekte geführt werden. In einem offenen Brief schreibt AGFAD-Mitglied Dr. Ernst Rudolf, Kritik an Methoden der Alterszwangsfestsetzung würde den „gegenwärtig stattfindenden Bemühungen“ zuwiderlaufen, „einen beispiellosen Massenzustrom von Migranten und die daraus resultierende  beträchtliche Belastung öffentlicher Haushalte mittels rechtsstaatlicher Prinzipien zu kontrollieren.“ 5 Ähnlich äußert sich auch sein Kollege Dr. Schmeling, wenn er von „zunehmende(n) grenzüberschreitende(n) Migrationsbewegungen“ spricht. Solche Äußerungen verdeutlichen nochmals die Notwendigkeit ärtzliches Handeln zu reflektieren, welches unabhängig von staatlichen Interessen und gemäß seinen ethischen Grundsätzen das Selbstbestimmungsrecht des*der Patient*n respektieren, Schaden vermeiden, zum Wohle des*der Patient*in und sozial gerecht sein sollte. Auch wird hier die notwendige Unterscheidung zwischen Flucht und Migration missachtet und Fluchtgründe herabgewürdigt. Rechtsstaatliche Aufgabe ist es, Schutz vor Verfolgung und Sicherstellung juristischer Gleichbehandlung zu gewährleisten und nicht für Kostenminimierung zu sorgen.

Auch das Argument, Geflüchtete befänden sich durch das Fehlen gültiger Ausweispapiere in einer Art „Bringschuld“ gegenüber staatlichen Behörden bezüglich eines Beweises für ihr angegebenes Alter, lehnen wir ab. „In dubio pro reo“ (deutsch: im Zweifel für den Angeklagten) gilt im deutschen Recht ausschließlich im Strafrecht, da es nur dort einen Angeklagten gibt. Die Anfechtung des Alters von unbegleitet minderjährigen Flüchtlingen (UMF) wird jedoch vom Sozialgericht beantragt. Vor dem Sozialgericht gilt (leider) die Bringschuld, der Antragsteller auf Sozialleistungen muss beweisen, dass er berechtigt ist, die Sozialleistungen zu bekommen. Wir fordern den Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ auch hier geltend zu machen. Uns ist es wichtig, an dieser Stelle zu betonen: Wir lehnen jegliche Kriminalisierung von Flucht – unabhängig von ihren Ursachen – strikt ab.
Es geht nicht (wider häufiger Darstellung) um das Erschleichen von Leistungen, sondern um das Recht, vor Verfolgung, Hunger und Krieg geschützt zu sein. Wir stehen für ein Verfahren, das im Zweifel für den*die Geflüchtete*n urteilt, da wir die*den Geflüchtete*n nicht als schuldig und somit nicht als zu verurteilen betrachten.

Viele renommierte Organisationen und Gremien haben sich bereits gegen die Methoden der Alterszwangsfestsetzung ausgesprochen, darunter die Bundesärztekammer, die Ärzt*innenorganisation IPPNW, die Deutsche Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie und der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ebenso haben sich auch ärztlichen Mitarbeiter*innen der Charité (als Mitglieder*innen oben genannter Oranisationen bzw. Gremien) dagegen positioniert. 7

4. Ausblick

4.1. Forderungen

Wir fordern einen offenen und transparenten Diskurs in Bezug auf die Alterszwangsfestsetzung, wozu mindestens ein öffentliches Statement von Vertreter*innen der Rechtsmedizin zu dieser Diagnostik gehört.

Als Medizinstudierende fordern wir schlussendlich alle Ärzt*innen dazu auf, sich nicht an der Durchführung der Verfahren zu beteiligen und sich ihrer eigentlichen und wichtigsten Verantwortung zu verschreiben.

4.2. Alternative Methoden

Abschließend soll noch auf eine mögliche alternative Methode im Rahmen der Alterszwangsfestsetzung eingegangen werden.
Sogenannte „Clearinggespräche“ wurden bereits erwähnt, welche das Alter nicht nur hinsichtlich der Biologie, sondern ebenso hinsichtlich psychischer Faktoren einstufen. Ärzt*innen sollten sich hier nicht zu willigen Vollstrecker*innen politischer Interessengruppen machen lassen, sondern ihrer Verpflichtung nachkommen, zum Wohle und Schutz ihrer Patient*innen zu handeln. Dies bedeutet konkret, dass solche Gespräche auf der gleichen Grundlage stattfinden sollten wie alle anderen Ärzt*innen-Patient*innen-Verhätnisse auch. Sie sind dazu bestimmt, das situationsbezogene und individuelle Maß an medizinischer Hilfsbedürftigkeit zu ermitteln. Psychosoziale Elemente erhalten einen Stellenwert und somit steht die Schutzbedürftigkeit eines Menschen über dem „rein“ biologischen Alter. Es muss jedoch gewährleistet sein, dass auch diese Gespräche ohne Druck stattfinden und Willkürlichkeit vermieden wird, dazu muss selbstverständlich auch hier die ärztliche Schweigepflicht gegenüber Ausländerbehörden oder Jugendämtern konsequent erfüllt werden. Außerdem sollten Kriterien wie beispielsweise Bartwuchs oder die Stimmlage nicht ausschlaggebend für die Einstufung als voll-bzw. minderjährig gelten. Zudem sollten solche Gespräche von qualifizierten und neutralen Fachkräften geführt werden, die Erfahrung im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten haben und traumasensibel geschult sind. Ebenso muss gewährleistet werden, dass die Gespräche in einer für den*die Geflüchtete*n verständlichen Sprache stattfinden, ggf. muss ein*e Dolmetscher*in bestellt werden. Ziel jedes Gesprächs sollte es sein, den individuellen Hilfsbedarf zu ermitteln und nicht die Volljährigkeit festzustellen. Hier seien nochmals der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ sowie die Tatsache, dass es bereits möglich ist, Anspruch auf Hilfen für junge Erwachsene nach dem 18. Lebensjahr zu beantragen, erwähnt. Dies gilt unabhängig von Ethnie oder Herkunft und wir setzen uns hier für eine juristische Gleichbehandlung ein, welche derzeit nicht immer garantiert werden kann.

5. Fazit

Die Kritischen Mediziner*innen sind der Meinung, dass die aktuellen Methoden, die im Zuge der Alterszwangsfestsetzung angewendet werden, hinsichtlich juristischen, medizinethischen und medizinischen Gesichtspunkten ungeeignet und menschenverachtend sind. Wir sprechen uns gegen jede Form von Alterszwangsfestsetzung aus, die über ein kontrolliertes, transparentes, humanes Gespräch, geführt von geschultem Fachpersonal, hinaus geht. Wir fordern bedürfnisorientierte Rechte für unbegleitete minderjährige und Geflüchtete im Allgemeinen. Wir kämpfen gegen die Verschärfung der Asylgesetze und für ein Bleiberecht für alle.

Quellen:
1: http://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/17/SchrAnfr/s17-17714.pdf
2: http://remed.charite.de/service/forensische_altersschaetzung/
3: Jung 2000, Schmeling et al. 2000, http://campus.unimuenster.de/fileadmin/einrichtung/agfad/empfehlungen/empfehlungen_ausserhalb_strafverfahren.pdf
4: http://www.tagesspiegel.de/berlin/versuchter-suizid-eskalation-in-der-charite-fluechtling-wehrt-sich-gegen-altersfeststellung/7723904.html
5: http://campus.uni-muenster.de/fileadmin/einrichtung/agfad/003.pdf
6: http://www.aerzteblatt.de/pdf.asp?id=41687
7:
http://www.bundesaerztekammer.de/aerztetag/beschlussprotokolle-ab-1996/111-daet-2008/punkt-vi/menschenrechteasylbewerber/3-aerztlich-ethische-belange/,
https://www.ippnw.de/relaunch/soziale-verantwortung/artikel/de/willkuerliche-feststellung-des-alter.html,
http://www.dgkjp.de/aktuelles1/337-altersfeststellung,
http://www.b-umf.de/de/themen/altersfestsetzung)